Ptolemaios I. Soter
E) Ptolemaios I. und das Griechentum
II.) Alexandreia als kulturelles Zentrum: Das Museion und das Programm des Ἑλληνισμός
b) Form, Aufbau und Organisation von Museion und Bibliothek
1.) Das Museion
Bei einem Μουσεῖον im eigentlichen Sinne handelt es sich zunächst einmal um jegliche Art von Stätte, die zur Verehrung der Musen und der Begegnung mit ihnen dienen sollte. Baulich gesehen bestanden die Musenheiligtümer in der Regel aus einer offenen Säulenhalle mit Altar, während reguläre Tempelbauten für die Musen nicht üblich waren. Da die Musen nach griechischem Glauben den Menschen die Erinnerung, das Singen und jegliche auf der Sprache und dem Sprechen basierende Kunst gestiftet hatten, die als μουσικὴ τέχνη einen wesentlichen Bestandteil der Jugenderziehung und der allgemeinen Bildung darstellten, wurden die Verehrung der Musen und die Bildung miteinander in Verbindung gesetzt. So war auch die Akademie Platons von ihrer formalen Struktur her eine Verbindung von Verehrungsstätte des Musenkultes und Bildungsstätte gewesen und hatte ein Museion beinhaltet, wie auch der Peripatos des Aristoteles ein Musenheiligtum als Zentrum besessen hatte (Diog. Laert. 5,51-52).210 Die Organisationsform als Verein zur Musenverehrung hatte den Schulen überhaupt erst ermöglicht, als eine Art „juristische Person“ zu existieren, so daß sie z.B. Geld und Immobilien u.a. von ihrem Gründer hatten erben können.211 Bei den beiden Schulen war auch das gemeinsame Zusammenleben und Forschen von Lehrern und Schülern ein wesentlicher Bestandteil (s. Diog. Laert. 5,39 & 5,51-57) gewesen. So hatte schon das Lykeion in seiner Anlage über Räumlichkeiten für Unterkunft, gemeinsame Mahlzeiten und die Forschung inklusive einer Bibliothek verfügt. Zugleich war dort an der Idee des lebenslangen Lernens durch die gelehrte Gemeinschaft durch diese Institution festgehalten worden.212
Die erste Beschreibung der Anlagen und Einrichtungen des Museion erfolgte allerdings erst durch Strabon.213 Da sie einen Stand schon kurz nach der römischen Eroberung beschreibt, dürfte dies auch für die spätptolemaiische Zeit zutreffen.214 Dies sagt zunächst einmal v.a. im baulichen Bereich nicht sehr viel über den Zustand in der frühptolemaiischen Phase aus, jedoch könnte aufgrund des formalen Charakters als Verein zur Musenverehrung der in der Regel starke Konservatismus von religiös organisierten Institutionen für eine gewisse Kontinuität gesorgt haben.215 Dabei handelte es sich um einen Teil der Palastanlagen (Strab. 17,1,8 (p. 793), s. n. 213), die hierbei einen Bezirk von nicht geringer Größe darstellen, der seit ca. 270 n. Chr. verödete und seit dem 19. Jh. mit veränderter Küstenlinie vom modernen Alexandreia überbaut wurde (s. in E) I.) b) 1.) Die Ausgangslage einer Rekonstruktion der frühhellenistischen Anlage & in E) I.) e) 3.) Bauliche Anlagen der Stadt), so daß die genaue Lage des Museion und seiner Räumlichkeiten nicht einmal annähernd festgestellt werden kann. Auch der Versuch, aufgrund des überlieferten Bibliotheksbrandes von 47 diese und damit unter Annahme der baulichen Zusammengehörigkeit das Museion in Hafennähe anzusiedeln, da der Brand von dort ausgegangen sei, muß aufgrund der mit dessen Historizität verbundenen Probleme vage bleiben.216 Als Hauptraum des Museion diente dabei gemäß Strabons Beschreibung (Strab. 17,1,8 (p. 794), s. n. 213) ein gemeinsamer Speisesaal für die Mitglieder dieser Einrichtung, wie schon beim Lykeion aufgrund der Erwähnung von gemeinsamen Tellern, Trinkgefäßen und Tischgerät in Stratons Testament (Diog. Laert. 5,62) diese Institution angenommen werden kann. Hinzu kamen wohl noch weitere Räume zwecks gemeinsamen Lebens und Arbeitens, wobei aber nicht bekannt ist, ob diese beim Museion oder in einem anderen Bereich des Palastareals lagen. Schließlich mußte das Museion als formale Institution des Musenkultes selber noch einen Musenaltar besessen haben, auch wenn dieser nirgendwo erwähnt wird.217
Von seiner Organisation und rechtlichen Seite her war das Museion ein σύνοδος bzw. ein θίασος τῶν Μουσῶν, also ein Kultverein zur Verehrung der Musen und zur Abhaltung von turnusgemäßen Festversammlungen und kultischen Feiern zur ihren Ehren. Dabei waren die am wissenschaftlichen Betrieb des Museion beteiligten Personen zugleich Mitglieder dieses Kultvereins.218 Dieser wurde durch einen vom König ernannten Priester, dem ἐπιστάτης, geleitet (s. OGIS 104,4 & Strab. 17,1,8 (p. 794)), ferner ernannte der König die Mitglieder und stellte die κοινὰ χρήματα für den Betrieb des Museion und seine Mitglieder (s. Strab. 17,1,8 (p. 794)) zur Verfügung. Zugleich stand der Herrscher mit den Mitgliedern des Museion in regem Kontakt und nahm an ihren Diskussionen teil bzw. ließ solche in seiner Anwesenheit abhalten, was zum Gegenstand vieler Anekdoten wurde (s. Plut. mor. 458a-b). Der König nahm damit eine gewichtige Rolle ein, so daß die gesamte Institution des Museion im Gegensatz zur Akademie und dem Lykeion einen außerordentlich monarchischen Charakter bekam.219 Diese Institution stellte somit auch ein Symbol für den Wandel der politischen Landschaft des griechischen Kulturkreises von der Polis mit in der Regel demokratischen oder oligarchischen Strukturen und einem großen Anteil an privaten Initiativen zur hellenistischen Monarchie dar. Die Mitglieder wurden durch eine vollständige σιτήσις (s. Strab. 17,1,8 (p. 794)), also eine freie Speisung auf Staatskosten, die in der klassischen Polis allein bestimmten Beamten und besonders verdienstvollen Bürgern und in besonderen Fällen deren Nachkommen zugestanden hatte,220 und durch eine σύνταξις (s. Athen. 1,22d & 11,494a), also eine Naturalien- und Geldzuwendung, die unter den Ptolemaiern vornehmlich den Tempeln des Landes gewährt wurde (s. OGIS 90,14-15 (Rosetta-Dekret)), versorgt. Die Höhe der Zuwendung bleibt hierbei unbekannt, da die im Zusammenhang mit Panerotos erwähnten 12 Talente (Athen. 15,552c) kaum repräsentativ sein dürften.221 Außerdem waren die Mitglieder u.U. von Abgaben und Steuern befreit, wobei aber dies erst für die Römerzeit belegt werden kann,222 falls sie nicht zur Klasse der Schriftenlehrer gehörten, die in einem Erlaß des Ptolemaios II. Philadelphos von der Salzsteuer befreit worden waren.223 Die Mitgliedschaft gestaltete sich bezüglich ihrer Dauer sehr variabel und reichte bis hin zur lebenslänglichen, wobei sie wohl v.a. in einem lebenslänglichem Aufenthaltsrecht bestand, während die Mitglieder jederzeit den Herrschaftsbereich der Ptolemaier verlassen konnten.224
Über die Verwaltungsstruktur können praktisch keine Aussagen getroffen werden, indem allein die Existenz eines ταμίας bzw., genauer gesagt, die seiner Rechnungsbücher belegt ist (Athen. 12,552c), jedoch mußten noch andere Ämter wie der γραμματεύς existiert haben.225 Auch die Anzahl der Mitglieder kann nicht einmal in ungefährer Größenordnung festgestellt werden. Genaugenommen wird nicht einmal für eine einzige der großen Figuren des kulturellen Lebens in Alexandreia in irgendeiner Weise bezeugt, daß sie wirklich Mitglied des Museion war bzw. dort ihre Studien betrieb und lehrte. Hier kann nur auf allgemeine Überlegungen zurückgegriffen werden, indem Strabon pauschal Naturwissenschaftler und Literaturgelehrte in die Reihen der Mitglieder einreiht und die Verfasser von Katalogen und Textausgaben wohl aus technischen Gründen dazugehörten.226 Das Museion als ganzes agierte anscheinend als unabhängige Institution, wie auch seine Mitglieder in der Forschung weitestgehende Freiheiten besessen zu haben scheinen.227 Die Gelehrten waren von ihren Schülern umgeben, die in gemeinsamen Gesprächen mit ihrem Lehrer und durch Vorträge herangebildet wurden und danach innerhalb der hellenistischen Welt über einen guten Ruf verfügten.228 Hierbei könnten sie u.U. in verschiedene Gruppen eingeteilt worden sein, die es ermöglichten, daß Vertreter des gleichen Bereiches sich untereinander unterhielten.229 Zu Zwecken der Forschung besaß das Museion zu seinen Glanzzeiten in seiner universellen Ausrichtung neben der Bibliothek mehr oder weniger sicher zoologische und botanische Sammlungen, ein Observatorium, Werkstätten und eine medizinische Forschungseinrichtung. Überhaupt wurde es anscheinend mit äußerst reichen Geldmitteln versehen, so daß die Effektivität der Forschung wohl kaum durch fehlende Geld- und Sachmittel eingeschränkt wurde.230 Allerdings lassen sich hierüber erst unter Ptolemaios II. Philadelphos genauere Aussagen treffen, wobei auch hier und die gesamte Ptolemaierzeit hindurch die wenigen Angaben allgemeinen und unverbindlichen Charakters nur wenige Aussagen über die Organisation des Museion erlauben.231 So dürfte es sich unter Ptolemaios I. v.a. um einen Zirkel von Intellektuellen im Umkreise des Königs gehandelt haben.232
Das Museion von Alexandreia war somit von der Idee her ein Nachfolger der platonischen, v.a. aber der aristotelischen Schule als eines Ortes der Vermittlung von Gelehrsamkeit, aber auch, wohl in stärkerem Maße als bei seinen Vorgängern, ein Ort der Forschung.233 Einen gewissen Einfluß könnte aber wohl auch Alexander der Große ausgeübt haben, der auf seinem Feldzug griechische Gelehrte und Forscher aus allen möglichen Bereichen, darunter Philosophen und Geschichtsschreiber mitgenommen und auch über alle Ereignisse und Beobachtungen hatte Buch führen lassen. Hierzu dürfte ihn wohl auch die Erziehung durch Aristoteles mit angeregt haben, da dieser an einem Wissen in einem möglichst weiten Gebiet, und zwar möglichst auf Basis von Beobachtungen, interessiert gewesen war. Zugleich war aber durch die wissenschaftliche Begleitung des Alexanderzuges und die Niederschrift ihrer Beobachtungen eine schriftliche Auswertungsbasis für künftige Geschichtsschreiber, Ethnographen, Geographen und Naturphilosophen entstanden.234 Schließlich unterschied sich aber auch das Museion von seinen Vorgängern dadurch, daß es sich nicht selbst finanzieren oder zumindest selber nach Finanzierung Ausschau halten mußte, sondern von oben „gesponsert“ wurde.235
Diese Institution wurde zum Mittelpunkt des Wissenschaftsbetriebes der hellenistischen Welt und selber zum Vorbild für weitere Institutionen ähnlichen Charakters innerhalb der Staatenwelt des Hellenismus, später in Rom und in den griechischen Städten des Römischen Reiches, wie auch in Byzanz ähnliche Institutionen aufgebaut wurden und das Konzept der mittelalterlichen Universität die Idee einer zentralen Forschungsstätte wiederaufnahm. Allerdings bestand ein großer Unterschied dieser Institutionen zu ihrem gemeinsamen Vorgänger darin, daß das Element des gemeinsamen Musenkultes immer weiter schwand und die neuen Einrichtungen profaneren Charakters waren.236
Anmerkungen:
210 Fraser (1972), Bd. I, pp. 312-314; s.a. Müller-Graupa (1933), pp. 797-801; Préaux (1978)b, Bd. I, pp. 231-232.
211 Mahaffy (1887), pp. 145-146.
212 Green (1990), p. 85; s.a. Bouché-Leclercq (1903-1907), Bd. I, pp. 128-129; Groß (1979)a, pp. 1482-1483.
213 Strab. 17,1,8 (pp. 793-794): τῶν δὲ βασιλείων μέρος ἐστὶ καὶ τὸ Μουσεῖον, ἔχον περίπατον καὶ ἐξέδραν καὶ οἶκον μέγαν, ἐν ᾧ τὸ συσσίτιον τῶν μετεχόντων τοῦ Μουσείου φιλολόγων ἀνδρῶν. ἔστι δὲ τῇ συνόδῳ ταύτῃ καὶ χρήματα κοινὰ καὶ ἱερεὺς ὁ ἐπὶ τῷ Μουσείῳ, τεταγμένος τότε μὲν ὑπὸ τῶν βασιλέων...
214 Fraser (1972), Bd. I, p. 315.
215 Barber (1928), p. 251.
216 Glock (2000), p. 509; s.a. Müller-Graupa (1933), pp. 804-806; Bengtson (1987), pp. 95-96.
217 Groß (1979)a, p. 1483; s.a. Müller-Graupa (1933), p. 806; Fraser (1972), Bd. I, p. 315; Clauss (2003), p. 94.
218 Fraser (1972), Bd. I, p. 316; s.a. Pekáry (1979), pp. 1188-1189; Glock (2000), p. 508; Huß (2001), p. 236.
219 Weber (1993), pp. 76 & 79; s.a. Müller-Graupa (1933), pp. 807-808; Groß (1979)a, p. 1483; Clauss (2003), pp. 73-74.
220 IG II/III2,657 & XII,9,196,11-14 & XII,1,846,6-8 & 847,8 & 849,8 & 853,8-9 & SGDI III,1,3501 & 3502 & Plut. Arist. 27,2 & Isaios 5,47.
221 Green (1990), p. 87; s.a. Müller-Graupa (1933), pp. 808-809; Groß (1979)a, p. 1483; Bengtson (1987), p. 96. Fraser (1972), Bd. I, p. 311 vermutet hierbei, daß eventuell nur Intellektuelle, die nicht dem Museion angehörten, direkten Unterhalt vom König empfingen, während das Museion u.U. seine Mitglieder aus einem vom König gestifteten Fundus selber bezahlte, wie jede Kultgemeinschaft eine eigene Kasse zu haben pflegte, über die sie frei verfügen konnte. Leider läßt sich diesbezüglich nichts genaueres feststellen, außer daß in beiden Fällen der Unterhalt für die Mitglieder, über welche Wege auch immer, mehr oder minder direkt vom König beglichen wurde.
222 OGIS 714,4-5: καὶ τῶν ἐν τῷ Μουσείῳ | [σειτου]μένων ἀτελῶν φιλοσόφων.
223 Fraser (1972), Bd. I, pp. 316-317.
224 Clauss (2003), p. 94.
225 Groß (1979)a, p. 1483; s.a. Müller-Graupa (1933), p. 809.
226 Weber (1993), pp. 79-80; s.a. Fraser (1972), Bd. I, p. 317; Groß (1979)a, pp. 1483-1484; Bengtson (1987), p. 96.
227 Groß (1979)a, p. 1484; s.a. Green (1990), p. 87.
228 Bengtson (1987), p. 96.
229 Bengtson (1975), p. 135.
230 Wendel / Göber (1955), p. 64; s.a. Weber (1993), pp. 84-85; Glock (2000), p. 508; Clauss (2003), p. 94.
231 Samuel (1989), p. 15.
232 Fraser (1972), Bd. I, p. 307.
233 Davies (1984), p. 322; s.a. Fraser (1972), Bd. I, pp. 313-314; Bengtson (1987), p. 97; Grimm (1998)a, pp. 48-49.
234 Wendel / Göber (1955), p. 62.
235 Davies (1984), p. 322.
236 Bengtson (1975), p. 30; s.a. Fraser (1972), Bd. I, pp. 811-812.