Ptolemaios I. Soter
E) Ptolemaios I. und das Griechentum
II.) Alexandreia als kulturelles Zentrum: Das Museion und das Programm des Ἑλληνισμός
b) Form, Aufbau und Organisation von Museion und Bibliothek
2.) Die Bibliothek
Die Bibliothek gehörte organisatorisch und räumlich mutmaßlich zum Museion. Allerdings wird sie weder bei Herodas noch bei Strabon erwähnt, so daß die wichtigste Beschreibung der Bibliothek unter den Ptolemaiern bei Tzetzes überliefert ist. Bei Herodas kann dies dadurch erklärt werden, daß er aufgrund des „semi-dramatic context“ seiner Darstellung nicht auf alle Details eingehen konnte, während bei Strabon selbst im Falle der Historizität des Bibliotheksbrandes von 47, also etwa zwei Jahrzehnte vorher, eine größere Lücke im Bereich des Museion hätte auffallen müssen.237 Allerdings impliziert der Begriff der βιβλιοθήκη nicht unbedingt ein eigenes Gebäude, sondern lediglich einen Platz zur Bücheraufbewahrung, da es für eine Büchersammlung egal welcher Größe hauptsächlich irgendwelcher Regale bedurfte, die sich notfalls auch in den Gängen der Anlage des Museion befinden konnten. So bestand die einzige größere Bibliothek dieser Epoche, über die Angaben zu den Räumlichkeiten erhalten sind, nämlich die Bibliothek von Pergamon, aus mehreren kleineren Räumen zur Lagerung der Bücher und einem für kultische Zwecke, die allesamt auf der Rückseite einer der Säulenhallen des Bezirkes der Athena Polias angeordnet waren. Dabei erscheint es als unwahrscheinlich, daß sich die Attaliden in Pergamon mit einem so bescheidenen Anhang zu einer Säulenhalle als Bibliothek begnügt hätten, wenn die um einiges früher errichtete Bibliothek der Ptolemaier in Alexandreia ein eigenständiges Gebäude gewesen wäre, zumal da beide Institutionen im Konkurrenzverhältnis zueinander standen.238 Nun erwähnt Strabon in seiner Beschreibung des Museion, in das die Bibliothek mutmaßlich baulich integriert war, etliche Höfe mit Säulenhallen, die auch zur Unterbringung der Bibliothek mitsamt Lesebereich dienen konnten. Hierbei übernahmen dann die vorgelagerten Säulenhallen wohl die Funktion von Lese- und Arbeitsbereichen, während für die Zusammenkünfte der Gelehrten ein großer Saal, der οἶκος, zur Verfügung stand.239
Was die Eingliederung der Räumlichkeiten der Bibliothek in den Palastkomplex betrifft, so hatten sich die frühesten bekannten griechischen Bibliotheken des 6. Jh. in Tyrannenpalästen befunden (s. Athen. 1,3a). Auch hatte das Griechentum außerhalb der klassischen Zeit und der Hauptgebiete der klassischen Poliskultur eine lange und ausgeprägte Tradition der Kulturförderung durch Tyrannen und Könige gekannt.240 So hatte sich schon der klassische homerische Königshof durch die Anwesenheit von Poeten ausgezeichnet, aber auch in der Tyrannis hatte die ausgeprägte Förderung von Kultur und Künsten ein wesentliches Charakteristikum dargestellt und sich in der Errichtung von prachtvollen architektonischen Gebilden wie Tempel und Palästen, der Abhaltung von prunkvollen Festspielen mit Wettkämpfen und der Einladung von Musikern und Dichtern auch aus ferneren Regionen ausgedrückt. So hatte z.B. Peisistratos in Athen die Dionysien mit ihren Dramenaufführungen und damit das Drama selber gefördert (s. Schol. Ael. Arist. ad panath. 189,4 p. 323 Dingdorf), aber auch die Ordnung der homerischen Schriften veranlaßt (Cic. de orat. 3,137) und als erster eine öffentliche Bibliothek in der Stadt eingerichtet (Gell. 7,12,1). Am makedonischen Hof hatten eine Zeitlang Euripides und Agathon (Ail. var. 2,21 & 13,4) verweilt und in Syrakus die Tyrannen Hieron und Gelon Poeten und Künstler beschäftigt (s. Paus. 1,2,3 & Aristot. rhet. 2,16,2).241
Zugleich schloß sich das Museion mit der Einrichtung der Bibliothek auch an die großen Philosophenschulen an, unter denen die allerdings privaten Charakter besitzenden Schulbibliotheken des Aristoteles (Athen. 1,3a & 5,214d & Plut. Sulla 26,1 & Strab. 13,1,54 (p. 608)), des Epikur (Diog. Laert. 10,21) und des Zenon (Diog. Laert. 7,37) explizit belegt werden können. Dabei war v.a. Aristoteles aufgrund seines wissenschaftlichen Konzeptes, das zu einem bedeutenden Teil in der Auseinandersetzung mit den Meinungen der Vorgänger zu einem Problem bestand, auf eine möglichst weitreichende, im Idealfall sogar vollständige Sammlung aller im jeweiligen Wissensgebiet relevanter Werke angewiesen gewesen. Sein gleichzeitiger Anspruch, möglichst alle Wissensbereiche abzudecken, hatte die Anlegung einer Bibliothek, die möglichst alle Werke enthielt, erstrebenswert erscheinen lassen.242 Ägyptische Einflüsse dürften dagegen, abgesehen von der grundsätzlichen Tatsache, daß es sich hierbei um eine rein griechische Einrichtung handelte, keine größere Rolle gespielt haben, da die wenigen existenten Anhaltspunkte darauf hinweisen, daß das ägyptische Bibliothekswesen mutmaßlich sehr bescheidenen Charakters gewesen war.243
Über die Organisation der Bibliothek in Alexandreia im speziellen kann wenig gesagt werden. So steht nicht einmal fest, ob sie allgemein zugänglich war244 oder nur den Mitgliedern des Museion vorbehalten war,245 auch wenn diese auf jeden Fall wohl die Hauptnutzer darstellten.246 Sie wurde durch einen vom König ernannten Vorsteher geleitet.247 Im allgemeinen besaßen größere antike Bibliotheken Kataloge, in denen die Buchbestände in Sachgebiete eingeteilt und innerhalb dieser die Werke alphabetisch nach Autorennamen angeordnet waren, wobei diese Anordnung hauptsächlich durch die Pinakes des Kallimachos, der in Alexandreia wirkte, erschlossen wird. Dort werden die katalogisierten Werke in Epos, Elegie, Iambos, Melos, Tragödie und Komödie im Bereich der Poesie und in Geschichte, Rhetorik, Philosophie, Medizin, Gesetze und u.U. weitere nicht überlieferte Sachgebiete im Bereich der Prosa und schließlich παντοδαπὰ συγγράμματα, die über eine sachliche Untereinteilung wie z.B. Fischfang und Kuchenbäckerei verfügten, eingeteilt. Zugleich wurden auch die Rollenanzahl und die Anzahl der Gesamtzeilen des Werkes vermerkt. Eine Ähnlichkeit dieses Werkes mit den eigentlichen Katalogen kann wiederum durch die Ähnlichkeit mit den erhaltenen Fragmenten späterer Bibliothekskataloge erschlossen werden, die mutmaßlich nach alexandrinischem Vorbild erstellt worden waren.248 Diese Kataloge besaßen natürlicherweise nur dann einen Sinn, wenn der Nutzer anhand dieser Einteilung auch den Lagerplatz der dementsprechenden Rollen erschließen konnte, so daß sie nach diesem Muster angeordnet gewesen sein dürften. Bei dem Erwerb wurden die Rollen zuerst in eigenen Lagerhäusern aufbewahrt, in denen wohl eine gewisse Vorsortierung vorgenommen wurde bzw. auch die von den Schiffen beschlagnahmten Rollen auf die Abschrift warteten.249 Die Rollen selber waren mit Etiketten versehen, die Angaben über Autor, Werk und Herkunft des Exemplars enthielten. In Bibliotheken wurde in der Regel nur die Präsenznutzung (s. Gell. 11,17,1 & 13,20,1), aber keine Ausleihe erlaubt und meistens fiel das Herbei- und Zurückbringen der Bücher, die normalerweise in Holzgestellen oder Schränken ringsum an den Wänden aufbewahrt wurden, in den Zuständigkeitsbereich des Personals der Bibliothek.250
Die Bibliothek sollte in der Folgezeit zu einem wichtigen kulturellen Zentrum der hellenistischen Welt aufsteigen, wobei allerdings die gesamte Antike hindurch immer noch Athen das Hauptzentrum der Philosophie verkörperte, indem sich dort weiterhin die wichtigsten Schulen befanden. So kehrte z.B. Straton von Lampsakos nach dem Tode Theophrasts nach Athen zurück, um dort dessen Nachfolge in der Leitung des Peripatos anzutreten.251
Anmerkungen:
237 Fraser (1972), Bd. I, p. 324; s.a. Wendel / Göber (1955), p. 88; Preisendanz (1979)a, p. 892.
238 Fraser (1972), Bd. I, p. 324; s.a. Wendel / Göber (1955), pp. 86-88; Weber (1993), p. 77.
239 Strab. 17,1,9 (pp. 793-794) (s. E) II.) b) 1.) Das Museion, n. 213); s.a. Vitr. 5,11,2: Constituantur autem in tribus porticibus exhedrae spatiosae, habentes sedes, in quibus philosophi, rhetores reliquique, qui studiis delectantur, sedentes disputare possint.; s.a. Wendel / Göber (1955), p. 88; Fraser (1972), Bd. I, p. 325; Groß (1979)a, p. 1483; Nielsen (1997), p. 634.
240 Paus. 1,2,3: συνῆσαν δὲ ἄρα καὶ τότε τοῖς βασιλεῦσι ποιηταὶ καὶ πρότερον ἔτι καὶ Πολυκράτει Σάμου τυραννοῦντι Ἀνακρέων παρῆν καὶ ἐς Συρακούσας πρὸς Ἱέρωνα Αἰσχύλος καὶ Σιμωνίδης ἐστάλησαν· Διονυσίῳ δέ, ὃς ὕστερον ἐτυράννησεν ἐν Σικελίᾳ, Φιλόξενος παρῆν καὶ Ἀντιγόνῳ Μακεδόνων ἄρχοντι Ἀνταγόρας Ῥόδιος καὶ Σολεὺς Ἄρατος.; Athen. 1,3a; s.a. Nielsen (1997), p. 634; s.a. Bevan (1968), pp. 124-125; Fraser (1972), Bd. I, p. 305; Green (1990), p. 84; Weber (1993), p. 33.
241 Green (1990), p. 84; s.a. Wendel / Göber (1955), p. 54; Fraser (1972), Bd. I, p. 305 („Thus the patronage of the Hellenistic kings was nothing new; the institution was seemingly an invariable accompaniment of royal splendour.“).
242 Wendel / Göber (1955), pp. 56-57 & 59; s.a. Fraser (1972), Bd. I, pp. 320 & 325; Grimm (1998)a, p. 50.
243 Milkau / Schawe (1955), pp. 16-17.
244 s. z.B. Green (1990), p. 89.
245 s. z.B. Nielsen (1997), p. 634.
246 s. Vössing (1997), p. 641.
247 OGIS 172; s.a. Fraser (1972), Bd. I, p. 322.
248 P. Vars. 5 & Maiuri (1925), Nr. 11 & P. Ross. Georg. I,22; s.a. Wendel / Göber (1955), pp. 70-72.
249 s. Gal. 17/1,606-607 Kühn; s.a. Wendel / Göber (1955), p. 70.
250 Vössing (1997), pp. 641-644; s.a. Dziatzko (1897)a, p. 422; Wendel / Göber (1955), pp. 141-142.
251 Davies (1984), p. 323; s.a. Fraser (1972), Bd. I, pp. 480-481; Gehrke (2003), p. 94.