Ptolemaios I. Soter
E) Ptolemaios I. und das Griechentum
II.) Alexandreia als kulturelles Zentrum: Das Museion und das Programm des Ἑλληνισμός
d) Der Ἑλληνισμός
2.) Der Ἑλληνισμός als Bedürfnis der tragenden Schichten des Reiches
Das griechische Element im ptolemaiischen Herrschaftsbereich wurde durch die sich im Anhang des Königtums herausbildenden griechischen Bevölkerungsschichten in wichtigen Bereichen wie Verwaltung und Heer gestärkt. Zugleich zogen aber auch Händler, Künstler und Handwerker nach, die der Verwaltung dienten und für die Erfüllung der Wünsche der griechischen Bevölkerungsschichten an ihrem neuen Wohnort weit weg von Griechenland sorgten.319 Des weiteren trugen v.a. die Händler einen Teil der ptolemaiischen Handelspolitik, indem sie für den Aufbau der wirtschaftlichen Strukturen sorgten. Dabei kumulierten sich die tragenden griechischen Schichten an zentralen Plätzen wie v.a. Alexandreia.320 Ferner besaßen die Griechen zumindest in der ersten Generation ein großes Interesse daran, auch an ihrem neuen Lebensort ihrer traditionellen Lebensweise nachzugehen und ihre Kultur zu wahren und sie weiterzugeben, da sie ihnen als die einzig legitime Form des Lebenswandels erschien.321 Außerdem stellte Griechisch die Amts- und Verwaltungssprache des Ptolemaierreiches dar, während die ägyptische Sprache nur in den unteren Verwaltungsebenen vor Ort benutzt wurde. Damit verbunden entwickelte sich eine Zweiklassengesellschaft, indem man ohne griechische Sprachkenntnisse innerhalb der ptolemaiischen Verwaltung nicht viel erreichen konnte und als Ägypter von den auf dem Land lebenden Griechen und Makedonen gern als ein Mensch zweiter Klasse behandelt wurde.322 So bestand insgesamt ein Bedürfnis der tragenden Schichten des Reiches an einer Politik des Ἑλληνισμός.
Zugleich blieb der Ἑλληνισμός jedoch das Phänomen einer geringen Minderheit, da der Monarch kein Interesse an einer Vergrößerung der relativ kleinen Schicht von Griechen in Form von einheimischen Aufsteigern hatte,323 da die Griechen gegenüber den Einheimischen doch gewisse Privilegien besaßen und v.a. im Ptolemaierreich damit nicht mehr als reine Arbeitskräfte behandelt werden konnten. Denn ein wesentliches Element der ptolemaiischen Wirtschaft bestand in einer Trennung zwischen einheimischen Produktivkräften und einer makedonisch-griechischen Händler-, Krieger- und Oberschicht (s. in D) IV.) b) 2.) Die Verteilung von Land an makedonische Offiziere und Soldaten und ihre Bedeutung im Rahmen der ptolemaiischen Innen- und Sicherheitspolitik), so daß jegliche größere Veränderung der Bevölkerungsstruktur eine Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit des ptolemaiischen Wirtschafts- und Finanzwesens bedeuten mußte. Außerdem konnte das Land in der bisherigen Weise nur weiterregiert werden, wenn die Macht des Landesherren in einer so starken Weise akzeptiert wurde, wie sie für das griechische Selbstverständnis schon nahezu unmöglich war.324 So bildete sich eine relativ dünne griechische Führungsschicht im Gegensatz zur breiten Masse der Einheimischen heraus.325 Allerdings gewährte die Ansiedlung von griechischen und makedonischen Söldnern in der Chora auch den Einheimischen einen gewissen Einblick in die allgemeine griechische Lebensweise.326 Jedoch handelte es sich beim größten Teil der griechischen und makedonischen Schichten, denen die Ägypter zu begegnen pflegten, um Soldaten, die nicht gerade die besten Repräsentanten der griechischen Kultur verkörpert haben dürften.327
Im Sinne der Politik der Trennung zwischen beiden Bevölkerungsgruppen muß auch die von den Ptolemaiern betriebene Politik der Förderung der einheimischen Kultur v.a. auf regionaler und lokaler Ebene verstanden werden, die eine Assimilierung der lokalen Eliten nicht notwendig erscheinen ließ, wie auch die unterste Verwaltungsebene vor Ort wie schon unter den Persern im wesentlichen den traditionellen einheimischen Instanzen überlassen blieb.328 So konnte die ägyptische Kultur unbeschadet neben der griechischen Kultur fortbestehen. Eine Polis konnte praktisch nur mit griechischem Siedlungskern entstehen, wie auch im Bereich der Rechtsprechung, ägyptisches und griechisches Recht nebeneinander Geltung besaßen und praktiziert wurden. Auch im kultischen und religiösen Bereich bestand ein Nebeneinander der beiden Kulturen in dem Sinne, daß Ägypter fast ausschließlich ihren eigenen Kulten nachgingen und Griechen weiterhin hauptsächlich ihre eigenen Göttern verehrten. Auch weisen die Architektur und die Ausschmückung der ägyptischen Tempel kaum griechische Einflüsse auf.329
Auch traten die Griechen und Makedonen nicht als eine in sich vollkommen geschlossene Gruppe auf, indem sie sich immer auf ihre einzelnen Herkunftsgebiete bzw. Poleis innerhalb der griechischen Welt beriefen (Theokr. 15,87-93) und sich, sofern sie nicht das Bürgerrecht einer der drei πόλεις in Ägypten besaßen, über etliche Generationen hinweg nach der Polis ihrer Urväter benannten, deren Bürgerrecht sie beanspruchten, die sie jedoch u.U. niemals in ihrem Leben sahen.330 Auch wurde die Bildung im Hellenismus wie schon in der klassischen Zeit in der Regel als eine Privatangelegenheit angesehen, in die die Öffentlichkeit kaum eingriff bzw. die nicht allgemein organisiert wurde, so daß es die Aufgabe der Eltern jedes einzelnen Kindes war, für die Bildung des Nachwuchses zu sorgen. So stellte auch das Museion als eine Art Lehranstalt schon recht hohe Einstiegsvoraussetzungen in bezug auf die Bildung, während die Ptolemaier im übrigen nicht viel in öffentliche Bildungsanstalten investierten bzw. genauer genommen nichts hierüber überliefert wird. Diese höhere Bildung und damit auch ein höheres Verständnis der literarischen Produktion war aufgrund der privaten Orientierung des Bildungssystems hauptsächlich von den höheren Schichten zu erwarten, die über entsprechende Geldmittel und Zeit verfügten, um eine überdurchschnittliche Ausbildung zu genießen, die über das Elementare hinausreichte.331 Somit erreichte die von staatlicher Seite betriebene Politik des Ἑλληνισμός vor allem in Hinsicht auf Museion und Bibliothek nur eine äußerst kleine Elite, während der Rest der griechischen Bevölkerungsgruppe in der Regel wohl höchstens mit Rezitationen der Werke der Dichter und Klassiker in Berührung kam und sich über diese mit der höheren griechischen Kultur identifizieren konnte. Zugleich stammt aber auch der größte Teil aller Quellen über das Leben und die Alltagskultur aus den Federn einer schmalen Oberschicht mit überdurchschnittlicher Bildung, während die große Mehrheit nicht über diesen Bildungsstand verfügte und in den schriftlichen Hinterlassenschaften in der Regel schweigt.332
In den nichtgebildeten griechischen und makedonischen Unterschichten v.a. in Alexandreia entwickelte sich aufgrund des Zusammenlebens mit Ägyptern eine Tendenz zur allmählichen Anpassung an die ägyptischen Gewohnheiten und zu interkulturellen Mischehen. Hauptsächlich handelte es sich hierbei jedoch um ein Phänomen der späteren Phasen der ptolemaiischen Zeit, als die hauptsächliche „Front“ nicht mehr zwischen Ägyptern und Griechen, sondern allmählich zwischen ptolemaiischen Untertanen und Römern verlief, so daß die Gemeinschaft im gemeinsamen Gegner erwuchs. Außerdem blieben keine Belege für Mischehen vor dem 2. Jh. erhalten, wie auch hier ein Wendepunkt um 220 liegen dürfte, als sich das ägyptische Element mehr und mehr durchzusetzen begann.333 Auch pflegte das Griechentum Mischehen und Mischlinge recht rasch mit Begriffen wie μιξοβάρβαροι (Xen. hell. 2,1,15) oder μιξέλληνες (SIG3 495,113 & IOSPE I2,32,B17) zu brandmarken, wenn nicht gerade ein eklatanter Frauenmangel vorherrschte.334 Viele Nachfahren von Einwanderern des ausgehenden 4. Jh. und des 3. Jh. führten bis zum Ende der hellenistischen Epoche die Heimatpolis ihrer Urahnen in ihrem Namen.335 Allerdings dürften sich die unterprivilegierten griechischen Unterklassen von diesen Erwägungen weniger betroffen gefühlt haben, da für sie und die daraus resultierenden Nachkommen eine Mischehe praktisch keine Nachteile mit sich brachte. Daher dürfte hier die Hemmschwelle wesentlich niedriger gewesen sein, weswegen auch hier die ersten Vermischungen aufgetreten sein dürften. Zugleich handelte es sich hierbei wohl hauptsächlich um das Resultat eines alltäglichen Nebeneinanders, in dem sich die Vertreter der einzelnen Bevölkerungsgruppen nicht vollkommen voneinander distanzieren konnten.336 So kamen schon vor 332 bei den griechischen Einwanderern aus vorhellenistischer Zeit erste Verschmelzungen zwischen Griechen und Ägyptern vor, aus denen sich die Hellenomemphiten ableiteten und die in manchen Fällen sich durch die Vermischung von griechischen und ägyptischen Kulturelementen in der Symbolik, den Stilformen und bei Beigabentexten niederschrieben.337 Schließlich handelte es sich von Anfang an bei einem sehr großen Teil der makedonischen und griechischen Einwanderer um Söldner, die nach Ägypten angeworben und dort angesiedelt wurden, so daß hauptsächlich männliche Vertreter des Griechentums einwanderten und deshalb unter ihnen ein nicht unbedeutender Frauenmangel vorgeherrscht haben dürfte, so daß Mischehen wohl sehr nahegelegen haben, v.a. wenn man bedenkt, daß „it was hard to find a Greek wife for a Greek soldier, while the Egyptian girls were attractive and ready to hand.“338 Auch mußten sich bei einem Nebeneinanderleben von zwei verschiedenen Kulturen auf engem Raum mit gegenseitigem Kontakt beide natürlicherweise bis zu einem gewissen Grade beeinflussen, v.a. indem Merkmale bzw. Einrichtungen der anderen Kultur in die eigene integriert wurden, wenn sie für äußerst zweckmäßig bzw. sogar praktischer als die dementsprechenden eigenen gehalten wurden.339
Im literarischen Bereich entwickelte sich scheinbar recht schnell ein reges Interesse an ägyptischen Wundergeschichten, wobei schon Herodot einige von diesen wie z.B. die Geschichte des Rhampsinitos in das zweite Buch seiner Historien eingefügt hatte (Hdt. 2,121). Dabei handelte es sich bei den Lesern dieser Gattung, wie sich aus der literarischen Qualität der Geschichten erschließen läßt, hauptsächlich um die unteren und mittleren Schichten der makedonisch-griechischen Bevölkerung, die durch die hohe Literatur der Gelehrten Alexandreias kaum angesprochen wurden, während die intellektuelle Elite diese Art von Literatur kaum beachtete. Auf griechischer Seite wurden zugleich Geschichten typisch griechischen Ursprungs entwickelt, die jedoch dem ägyptischen Typus entsprachen. Dabei wurden viele Geschichten ägyptischen Ursprungs auf griechisch überliefert und andersherum, und manche Texte blieben sogar in Versionen beider Sprachen erhalten, so daß hier ein reger Austausch stattgefunden haben muß.340
Anmerkungen:
319 Gippert (1998), p. 302; s.a. Davies (1984), p. 266; Weber (1993), p. 123; Hölbl (1994), pp. 27-28.
320 Hölbl (1994), p. 28; s.a. Gippert (1998), p. 303.
321 Peremans (1983), p. 254.
322 P. Yale 46,1,13: [καταφρον]ήσας μοῦ ὅτι Αἰγύπτ̣ιός εἰμι̣.; s.a. P. Col. Zen. 66; s.a. Green (1990), p. 313.
323 Gippert (1998), p. 303; s.a. Green (1990), p. 325; Ellis (1994)c, p. 64; Eder (1998)b, p. 324.
324 Bouché-Leclercq (1903-1907), Bd. I, p. 111.
325 Eder (1998)b, p. 324.
326 Turner (1984), p. 125.
327 Green (1990), p. 313.
328 Gippert (1998), p. 303; s.a. Eder (1998)b, p. 324; La’da (2003), p. 164.
329 Samuel (1989), pp. 9 & 46-48; s.a. Gippert (1998), p. 304; La’da (2003), p. 164; s.a. Bouché-Leclercq (1903-1907), Bd. I, p. 103 („il [Ptolémée] sut gouverner et accommoder son régime politique aux habitudes des peuples, ou plutôt des races groupées sous son sceptre. Il n’a pas cherché à imposer au peuple égyptien les habitudes d’esprit ou les coutumes grecques. Ce peuple avait pris, au cours des siècles, son assiette naturelle et son allure définitive. Ptolémée jugea que le mieux était de le laisser vivre comme par le passé. Ce fut la règle constante observée par la dynastie, qui, sur ce point tout au moins, conserva fidèlement l’esprit large et tolérant de son fondateur.“). Dementsprechend bedarf die Meinung von Ellis (1994)c, p. IX, daß „he concentrated all his considerable skill and intelligence on the preservation, the development, and the promotion of Egypt: of a new Hellenized Egypt, centered in Alexandria [...]“ einer genaueren Definition des Begriffes „Hellenized“, die er leider nicht liefert, falls er nicht die Bezeichnung „a new Hellenized Egypt“ auf eine Region bzw. eine Menschengruppe beziehen möchte, die nicht mit dem üblichen geographischen und kulturellen Begriff Ägyptens übereinstimmt, sondern eine zu diesem wesensneue Entität bildet. Denn später führt er in scheinbarem Widerspruch dazu an: „Peter Green [...] calls the notion of a deliberate attempt to Hellenize Egypt and Asia a ‘pernicious myth,’ and I must agree. Ptolemy certainly never sought, in any way, to fuse the races of his kingdom. But Eric Turner’s notion that Soter was never ‘consciously Egyptianizing’ seems excessive.“ (Ellis (1994)c, p. 64).
330 Stephens (2003), p. 243; s.a. Burstein (2003), p. 235.
331 Weber (1993), pp. 155-156 & 162-163.
332 Samuel (1989), p. 35.
333 Fraser (1972), Bd. I, pp. 73 & 82; s.a. Turner (1984), p. 173; Green (1990), p. 315; Huß (2001), p. 753.
334 Fraser (1972), Bd. I, pp. 71-72.
335 Delrieux / Kayser / Pimouguet-Pédarros / Rodriguez (2003), p. 46.
336 Fraser (1972), Bd. I, pp. 72-73; s.a. Nilsson (1955/61), Bd. II, p. 26; Stephens (2003), p. 16.
337 Zucker (1953), pp. 7-8; s.a. Świderek (1961), p. 621; Thissen (1977), p. 899; s. dgg. Falivene (1991), p. 205.
338 Rostovtzeff (1928)a, p. 149; s.a. Bevan (1968), p. 86; Clarysse (1992), pp. 51-52; La’da (2003), p. 167.
339 Peremans (1983), p. 255; s. Rostovtzeff (1928)a, pp. 144-145.
340 Fraser (1972), Bd. I, pp. 675 & 681 & 686; s.a. Samuel (1983), pp. 73-74; Bowman (1986), p. 227.