Physikotheologie
Christian A. Caroli:
Physikotheologie: Die Natur und ihre Wissenschaften als Glanz Gottes in der Frühaufklärung
publiziert in:
Mohamed Badawi & Christian A. Caroli (Hrg.):
As-Sabil-Sammelbände für Kulturpluralismus;
Band 2: Das Aufeinandertreffen von Kulturen,
S. 177-230.
Konstanz 2009 (badawi - artes afro arabica)
Umfang: 230 Seiten • Format: 24 x 17 cm • ISBN 13: 978-3-938828-26-7
Preis (bis 10/2015): EUR 29,95 (inkl. 7% MwSt.) • Preis (ab 11/2015): EUR 14,95 (inkl. 7% MwSt.)
1. Begriff, geistige Wurzeln und Anliegen
1.2. Religiöse und geistige Wurzeln
1.2.2. Raimund de Sabunde und Raimundus Sullus
Die Physikotheologen des Hamburger Kreises unter Fabricius sahen ihre ideengeschichtlichen Wurzeln in dem katalanischen Physikotheologen Raimund de Sabunde (gest. nach 1436).11 In seinem Hauptwerk, dem liber creaturarum von 1436, das später Theologia naturalis benannt wurde, stellte er im ersten Kapitel zwecks der zum eigenen Glück notwendigen Selbsterkenntnis des Menschen eine Stufenleiter der Geschöpfe auf. Sie bestehe aus vier Klassen, nämlich der I. Klasse des Sachlichen, das zwar sei, aber nicht Leben, Empfindung, Verstand und Freiheit besitze, der II. Klasse der Pflanzen, die seien und lebten, der III. Klasse der Tiere, die seien, lebten und empfänden und wiederum in Unterklassen mit verschiedener Empfindungsfähigkeit unterteilt werden könnten, und schließlich der IV. Klasse des Menschen, der sei, lebe, empfinde, verstehe und Freiheit besitze. Gleichzeitig forderte er vom Menschen die dialektische Erkenntnis der Gleichheit und Differenzen gegenüber den anderen drei Klassen. Aus diesen Erkenntnissen folgten nun drei Konsequenzen a posteriori, nämlich A: In der Erkenntnis, daß der Mensch die ersten drei Klassen nicht erschaffen habe, sondern ein anderer, nämlich Gott, und daß diese drei Klassen auch im Menschen enthalten seien, müsse gefolgert werden, daß der Mensch selber von Gott erschaffen sei (Ex unitate ordinis ad unum ordinatorem; Cap. III-IV); B: Da die Klasse IV im Gegensatz zu den unzählige Arten und Familien umfassenden Klassen I-III nur noch aus einer Art bestehe, müsse Gott, der unendlich viele Klassen höher stehe, notwendig ein einzelner sein (Cap. V); und C: Da Gott die Eigenschaften der verschiedenen Klassen auf der ganzen Welt in Massen verteilt habe, müsse er diese in vollkommener Weise besitzen (Cap. VII). Des weiteren zog er noch drei Konsequenzen a priori, nämlich die Notwendigkeit des unendlichen Besitzes dieser Vollkommenheiten bei Gott (Cap. VIII), die Notwendigkeit der Bezeichnung Gottes als fontem infinitissimum essendi (Cap. XIII) und die Nichtgöttlichkeit aller Dinge außerhalb von Gott (Cap. XV).12
Die Physikotheologie setzte nun zur Überwindung der aus der kopernikanischen Wende entstandenen Möglichkeit, den Menschen als eine zufällige Anhäufung von Atomen zu betrachten, bei der Konsequenz A an, nämlich daß der Mensch von Gott geschaffen sei. Dies wird durch die Erkenntnis verstärkt, daß die anderen Geschöpfe auch nicht vom Menschen geschaffen seien, woraus auch die Sicht der anderen Geschöpfe als Wunder, in denen der eigene Schöpfer erkennt werden könne, folge. Die Konsequenzen B und C sind nun Ausdrucksmittel für den transzendentalen Charakter dieser Begegnung. Dadurch erhielt die Physikotheologie ihren starken anthropologisch-theologischen Ansatz und ihren Hang zum Erforschen und Ausmessen der Natur. Der Wolffianismus und die Deisten steigen erst bei der Konsequenz B ein und zeigen davon ausgehend aus der Weltmaschinerie rational-metaphysisch die Existenz und die intellektuellen Eigenschaften Gottes auf.13
Sabunde ging in seinem Werk auch von zwei Büchern der Offenbarung, nämlich der Heiligen Schrift als liber Dei und der Natur als liber creaturarum, aus (Cap. CCX-CCXVI).14 Die Bibel sei zwar nun als ein Gotteswort supernaturalis und damit unmittelbar glaubwürdig, aber die Natur sei als Offenbarung zeitlich älter und beweise als unverfälschbares Wort Gottes das göttliche Ansehen der Bibel, habe jedoch durch den Sündenfall für den Menschen an Deutlichkeit verloren. Daher sei ihm nach diesem Sündenfall zum rechten Verständnis der Offenbarung in der Natur die Bibel gegeben worden, während der Mensch aber zur Erfahrung der Bibel als Wort Gottes zuerst im liber creaturarum lesen und dadurch zur Frage nach der göttlichen Macht geführt werden müsse. In der Nachfolge Sabundes tauchte auch immer wieder die Frage auf, in welchem Verhältnis beide Bücher zueinander stünden.15
Das Werk Sabundes stellte wahrscheinlich eine Reaktion auf geistige Strömungen „atheistischen“ und deistischen Charakters, durch die das theistische Prinzip im Abendland gefährdet war, dar. Außerdem wurde es während der Blütezeit des Deismus aufgrund der englischen Toleranzakte von 1689 und der Pressefreiheit von 1694 unter Vermittlung der Physikotheologie wieder aktuell. Aber aufgrund der erhaltenen Exemplare kann auch im 16. Jahrhundert eine Wirkung dieses Werkes festgestellt werden, die sich mit einem Verlangen nach einem theistisch-teleologischen Glauben im Gegensatz zum weltanschaulichen Charakter des Barock erklären läßt.16
Sabunde hing wiederum vom katalanischen Apologeten, Dichter und Mystiker Raimundus Sullus ab, der an der Missionierung der maurischen Welt beteiligt war und im Kampf gegen seine Hauptgegner, die maurischen Philosophen, die naturerforschende Theologie betrieben, physikotheologische Gedankengänge entwickelte. Beide Philosophen gingen aber im Gegensatz zu der späteren eigentlichen Physikotheologie von noch sehr weit zurückliegenden naturwissenschaftlichen Erkenntnissen aus.17
Anmerkungen:
11 Johann Albert Fabricius: Delectus Argumentorum, Caput XIX, 454: In his familiam ducet Theologia naturalis sive liber creaturarum specialiter de homine et de natura ejus in quantum homo, et de his, quae sunt ei necessaria ad cognoscendum seipsum, et Deum, et omne debitum, ad quod homo tenetur et obligatur tam Deo quam proximo propositus a Venerabili Viro Raymundo de Sebunde, in artibus et Medicina Doctore et in sacra pagina egregio Professore.
12 Philipp (1957), pp. 47-49; s.a. Zöckler (1877/79), Bd. 1, pp. 450-451; Michel (2008), pp. 89-91.
13 Philipp (1957), pp. 49-50.
14 Cap. CCXII Bl. 152a: Libri duo dati sunt a deo scilicet liber naturae et liber sacrae scripturae.
15 Philipp (1957), pp. 50-51, s.a. Zöckler (1877/79), Bd. 1, pp. 354-357; Michel (2008), pp. 61-62.
16 Philipp (1957), pp. 51-53.
17 Philipp (1957), p. 52.