Mythisierung einer Kulturlandschaft
C) Vergils Kampanien
IV.) Kampanien als mythologische Landschaft vor und bei Vergil
In den in Kampanien liegenden Phlegräischen Feldern wurden schon seit Jahrhunderten die am Hadeseingang lebenden homerischen Kimmerer mit ihrem Schattenland angesiedelt, die Ephoros (bei Strab. 5,4,5 (p. 244)), da sie die Sonne nicht sehen dürfen, in unterirdischen Höhlen leben und Fremde zu einem unterirdischen Orakel (Strab. 1,2,18 (p. 26) & Cic. Tusc. 1,37 & Diod. 4,22,2) führen ließ, wobei die Landschaft um den Averner See, dessen im Süden und Westen hoher Kraterrand sich an der höchsten Stelle um 116 m erhebt,100 zu einem so hohen Gebirge umgeformt wurde ([Aristot.] mir. 102), so daß die Sonne nur direkt mittags hineinschien, und gemäß der Polis des Homer (Od. 11,14-15)) ein Cimmerium oppidum (Plin. nat. 3,61; s.a. Sil. Pun. 130-133) mit einer weissagenden kimmerischen Sibylle mit nekromantischen Praktiken vermutet wurde.101 Überhaupt war Kampanien als die Heimat von fabelhaften und übernatürlichen Wesen und des Todes bekannt.102 Diese Überlieferung vermischte Vergil mit der epireischen Thesprotis, wodurch die Landschaft des Averner Sees nach der Thesprotiens, wo sich an der Ἀχερουσία λίμνη, dem Zusammenfluß von Acheron und Kokytos (Strab. 7,7,5 (p. 324) & Thuk. 1,46,4 & Plin. nat. 4,4), ein Totenorakel von einigem Ansehen befand (Paus. 1,17,5 & 9,30,6), literarisch nachgeformt wurde, indem diese Ἀχερουσία λίμνη mit dem Averner See gleichgesetzt wurde (s. Sen. epist. 55,6). Vergil übernahm somit mit den fauces des Averner See (6,201) die himmelshohen Bergwände, mit der spelunca alta (6,237) und dem in die Unterwelt führenden antrum apertum (6,262) das μαντεῖον ἄντρον der Kimmerervorstellung, während er unter thesprotischem Einfluß Aeneas den Unterweltzugang entsprechend der Ἀχερουσία λίμνη an einer tenebrosa palus Acheronte refuso (6,107) vermuten läßt.103 Wenn nun Hardie davon ausgeht, daß auch die Kimmerer als Cheimerier ursprünglich in Thesprotien angesiedelt waren und erst durch Homer aufgrund der Verwendung einer Nekyia anstatt eines normalen Totenorakels an den Rand der Welt verschoben wurden, wobei er aus den ursprünglich zwei Flüssen vier werden ließ,104 so scheint es für die Rezeption Vergils keine Rolle zu spielen, da wohl kaum anzunehmen ist, daß er Homer entstehungs- und textkritisch durchleuchtete und zurückbildete, sondern eher, daß er die vorhandene Homer- und Lokaltradition erneut mit der Thesprotis verband.
Neben der Rezeption der mit der Thesprotis verbundenen homerischen Tradition der Kimmerer stellt Vergils Kampanien auch die Neuformulierung verschiedener lokaler und überlokaler Sagenstoffe dar. In der griechischen Mythologie war Kampanien ein Teilbereich des Geschehens der Odyssee an der sizilisch-unteritalischen Küstenlandschaft, wo auf der Sorrentinischen Halbinsel die Sirenen und Sirenusen ([Aristot.] mir. 103 & Strab. 1,2,12 (p. 22) & 5,4,8 (p. 247)),105 in Neapel das Grab der Parthenope,106 am Averner See die Nekyia und die Kimmerier, in Formiae die Laistrygonenstadt (Cic. Att. 2,13,2) und am Circeischen Vorgebirge das Grab des Elpenor und weitere Überreste der Kirkegeschichte angesiedelt wurden107 und Baiae und Misenum nach Gefährten des Odysseus108 benannt worden sein sollen. Des weiteren soll auch Herakles, vom Tiber herkommend, die Rinder des Geryon durch die Phlegräische Ebene getrieben,109 dort in einer gewaltigen Schlacht mit Hilfe der Götter die Giganten, deren Gräber z.T. rauchende Stellen hinterließen (Strab. 5,4,6 (p. 245) & Sil. Pun. 8,537-539 & 12,143-146), besiegt110 und den Ausfluß des Lucriner Sees zum Meer zugeschüttet haben.111 Mit ihm wurden auch die Gründungssagen von Bauli,112 Herculaneum (Dion. Hal. ant. 1,44,1) und Pompei (Solin. 2,5 & Serv. Aen. 7,662) verbunden.113 Auch Daedalus soll in Kampanien gelandet sein, was durch die Ekphrasis der Tempeltore eingefügt wird.114 Der Süden Italiens war aufgrund der griechischen Kolonisation zu einem großen Teil von der griechischen Kultur bewußt geprägt, und Griechen und gebildete Römer verehrten das Griechentum, indem auch griechische Bücher, Bilder und Statuen gesammelt wurden und Studienreisen nach Griechenland sehr beliebt waren, so daß man auch versuchte, dem Griechischen lateinische Entsprechungen zu schaffen.115
Daneben wurde Kampanien in vorvergilischer Zeit von den Römern mit dem troischen Paraplus in Verbindung gebracht, indem z.B. für Misenum (Prop. 3,18,3), Baiae (Prop. 1,11,27-30),116 die Insel Pithekusai bzw. Aenaria bzw. Ischia (Plin. nat. 3,82) und die Nachbarinsel Prochyta bzw. Procida (Plin. nat. 3,82 & Serv. Aen. 9,712) troische und griechische Eponyme angeführt wurden,117 Aeneas und Odysseus sich am Averner See beim Opfern begegnet seien (Dion. Hal. ant. 12,16,1-2), die Verbrennung der troischen Schiffe durch die Frauen wegen des Problems, daß die Troer danach noch nach Latium reisten, an den Golf von Caieta, dessen Namen man von der Amme des Aeneas ableitet (Serv. Aen. 7,1 & 10,36), verlegt wurde (Plut. mor. 265B-C). Dabei stehen die kampanischen Stätten bei Dionysios von Halikarnas (ant. 1,45-54) ohne weitere Hervorhebung lediglich in einer Reihe von weiteren Stationen der troischen Irrfahrt, indem bei Prochyta und Caieta (s.a. Strab. 5,3,6 (p. 233)) nur wegen des Versterbens der Namensgeberinnen zufällig geankert wurde (Dion. Hal. ant. 1,53,3). Bei der Origo gentis Romanae (9,6-10,2) befragt Aeneas in der sogenannten Stadt Cimbarionis eine Sibylle über das Bevorstehende, während Livius von Sizilien direkt auf den ager Laurentinus übergeht (Liv. 1,1,4).118
Vergil bereinigte schließlich diesen „mythographischen Wildwuchs Kampaniens“, der sich noch bei Properz in den Gedichten 1,11 und 3,18 offenbart, indem er den Paraplus der Troer mit seinen unzähligen Einzelorten, das Volk der Kimmerer mit ihrem Totenorakel, den Apollonkult zu Cumae mit seiner weissagenden Priesterin mit ihrem θάλαμος κατάγειος und den Averner See, die Objekt der Paradoxographen waren, dadurch dichterisch vereinigte, daß er die beiden Wahrsagekulte zusammenfaßte.119 Aeneas ließ er nach der Vorbeifahrt an den Sirenusen direkt bei Cumae landen und dabei Leucasia und das Kap Palinurus bei Velia, dessen Namensgebung in 6,381 von der Anwesenheit des Aeneas unabhängig gemacht wird, so daß auch eine Dublette zur Misenus-Episode (6,153-235) vermieden wird, ausfallen.120 Die einzelnen Orte formte er dabei dichterisch zu Institutionen um und schuf so eine dichterische Gesamtlandschaft, wobei die Übergänge zwischen realer Landschaft und idealer Fiktion sehr fließend sind und kaum auffallen.121 Dabei versuchte er auch, die Landschaft seiner Zeit durch Umformungen in die Zeit des Aeneas zurückzuversetzen.122 Highet sieht gerade in dieser Bereinigung auch „eine der schwierigsten dichterischen Aufgaben Vergils“.123
Anmerkungen:
100 Austin (1977), p. 99.
101 Stärk (1995), pp. 52-53; s.a. Corssen (1913), pp. 9-11; s.a. Leach (1999), p. 115; McKay (1970), pp. 212-213; Quiter (1984), pp. 97-99; Reeker (1971), pp. 136-137.
102 McKay (1970), pp. 201-202.
103 Stärk (1995), pp. 53-54; s.a. Austin (1977), p. 74.
104 Hardie (1977), pp. 279-281.
105 s.a. Highet (1964), p. 65.
106 Strab. 1,2,13 (p. 23) & 1,2,18 (p. 26) & 5,4,7 (p. 246) & Lutatius Catulus bei Serv. georg. 4,563 & Plin. nat. 3,62 & Dion. Per. 357-359.
107 Theophr. hist. plant. 5,8,3 & Strab. 5,3,6 (p. 232); s.a. Highet (1964), p. 65.
108 Strab. 1,2,18 (p. 26) & 5,4,6 (p. 245) & Lykoph. Alex. 694 & Varro bei. Serv. Aen. 9,707; s.a. zu Stolberg (1877), Bd. I, p. 529.
109 s.a. McKay (1970), p. 210; zu Stolberg (1877), Bd. I, p. 487.
110 Diod. 4,21,5-7 & 5,71,4 & Pol. 3,91,7 & Strab. 5,4,4 (p. 243) & 5,4,6 (p. 245); s.a. zu Stolberg (1877), Bd. I, pp. 505-506.
111 Diod. 4,22,1-2 & Strab. 5,4,6 (p. 245) & Lykoph. Alex. 697-698 & Prop. 1,11,2 & 3,18,4 & Sil. Pun. 12,117-119; s.a. McKay (1970), p. 210; zu Stolberg (1877), Bd. I, p. 482.
112 Sil. Pun. 12,156 & Symm. epist. 1,1,5 & Serv. Aen. 6,107 & 7,662.
113 s. insgesamt Stärk (1995), pp. 54-55.
114 McKay (1970), p. 201; s.a. Highet (1964), p. 65.
115 Highet (1964), pp. 66-67.
116 s.a. McKay (1970), p. 221; zu Stolberg (1877), Bd. I, p. 487.
117 s.a. Austin (1977), p. 107; McKay (1970), p. 223.
118 Stärk (1995), pp. 56-57.
119 Stärk (1995), pp. 57-59 (mit Quellenverzeichnis p. 59 n. 92).
120 Rehm (1932), p. 31; s.a. Böhmer (1986), pp. 97 & 100-101; Camps (1967/68), p. 23; Clark (1977)a, pp. 66-69; Clark (1979), pp. 157-158; Norden (1927), pp. 230-231.
121 Reeker (1971), p. 153.
122 Schoder (1971/72), p. 99.
123 Highet (1964), p. 65.