Mythisierung einer Kulturlandschaft
C) Vergils Kampanien
III.) Die Verknüpfung von Landschaft als Element der in ihr ablaufenden Handlung und reell existierender Landschaft
Aber auch die einzelnen Orte an sich wurden der Handlung entsprechend abgeändert, indem Vergil z.B. das Gebiet des Averner Sees, das zu seiner Zeit im Uferbereich schon längst durch Agrippa 37 v. Chr. abgeholzt worden war, in seinen früheren, mythologiebehafteten Zustand zurückversetzte.63 Dieser dichte Wald stellt für die Troer etwas Unheimliches dar, wie auch bezüglich der Unterwelt gesagt wird tenent media omnia silvae (6,131) und der Unterweltpfad mit einem nächtlichen Wald verglichen wird (6,270-271).64 Des weiteren schrieb der Autor dem Gebiet giftige Dämpfe zu, die sämtliche Vögel vergifteten (6,239-241), obwohl schon vor der Abholzung Agrippas ein reiches Vorkommen von Schwänen belegt war.65 Austin geht dabei von möglichen Erdspalten mit giftigen Dämpfen in dieser Gegend u.U. an der Stelle des heutigen Monte Nuovo aus66 bzw., daß Vergil davon ausgegangen sei, daß der Avernus in den Zeiten des Aeneas größere vulkanische Aktivitäten gezeigt habe als in seinen eigenen Tagen, wie auch modernere Autoren davon ausgingen, daß er zu Vergils Zeiten noch aktiver gewesen sein müsse.67 Auf jeden Fall wird der Avernus als unterweltähnliche und todesbringende Zone bei Vergil durch diese Ausformungen zu einem Vorposten der Welt des Todes und der Toten und damit des Hades. Auch wurde das Gebiet am Averner See schon traditionell als ein Hadeseingang betrachtet,68 zumal da es sich bei dem Averner See um einen Vulkankrater von heute ca. 3,2 km (2 mi.) Umfang und 60 m (200′) (nach Austin 39 m69) Tiefe handelt, dessen Wasser aufgrund der Speisung durch mineralische Quellen brackig ist.70 So impliziert der Begriff des Avernus bei Vergil in der Regel sowohl den See als auch die Unterweltregionen (5,732).71
Darstellungen von Πλουτώνια als Landschaftstyp sind bei Vergil wie z.B. die der Allecto als Unterschlupf dienenden und zuverlässig identifizierten Amsancti valles (7,561-571), wo weder die hohen Berge von 7,563 noch der reißende Wasserfall von 7,566-567 gefunden werden können, trotz individueller Orte als Vorlagen sehr literarisch geprägt und hochgradig überformt.72 Dabei können diese Überformungen einerseits aus z.T. sehr tiefgehenden Ausgestaltungen wie beim Avernus (6,237-241) und andererseits aus einer schlichten Hinzufügung „plutonischer“ Elemente wie bei der Höhle der Sibylle (6,9-13.42-44.98-99.237-241) und den fauces grave olentis Averni (6,201) bestehen.73 Typische Elemente sind dabei hohe Berge, düsterer Wald mit einem dunklen Gewässer, eine Höhle mit giftigen Dämpfen, wie sie sich z.B. auch bei Apollonios Rhodios74 vorfinden.75
Schoder geht auch davon aus, daß Vergil einige von Menschenhand in neuerer Zeit errichtete Bauwerke in die Zeit des Aeneas zurückversetzte, sie aber um seine Vorgehensweise zu überdecken, in seiner Beschreibung verschwimmen ließ.76 Darunter befanden sich auch die unterirdischen Anlagen am Averner See, die zwecks des Ausbaues von Portus Iulius unter dem Architekten Cocceius entstanden. Zu diesem 37 v. Chr. zur raschen Kommunikation zwischen Garnison und Hafen von Cumae und den Schiffswerften am Averner See errichteten Tunnelsystem, das aus einem ca. 1000 m (1100 yd.) langen, mit Luft- und Lichtöffnungen versehenen Tunnel zwischen der Akropolis von Cumae und Averner See durch den Mons Grillus und einem weiteren 200 m (220 yd.) langem Tunnel zwischen Averner und Lucriner See bestand, gehört auch der allgemein mit dem Unterwelteingang identifizierte Tunnel.77 Jedoch bereiteten diese Tunnelanlagen gemäß Strabon78 den Unterweltvermutungen eine Ende.
Die Grotte der Sibylle wird z.T. auch mit einer 1932 ausgegrabenen etruskischen und unter samnitischer Herrschaft modifizierten Grabanlage aus dem 6. bzw. 5. Jh. ohne bekannte Parallelen identifiziert, die gänzlich von Menschenhand errichtet wurde und deren Länge ca. 131,5 m (431′ 4″), Breite ca. 2,4 m (7′ 9″) und Höhe durchschnittlich ca. 5 m (16′ 4″) betrugen. Sie besaß auch sechs u.U. ursprünglich mit Holztüren verschließbare und als die ostia deutbare Luft- und Lichtöffnungen, von denen eine eine als Sitz der Sibylle geeignete Nische, das sogenannte Adyton, besaß.79 Durch das Eindringen der Strahlen der untergehenden Sonne durch die sechs Öffnungen entstehen auch sehr eindrucksvolle Lichteffekte.80 Als Alternative wird gern die Crypta Romana angenommen, die südlich der Akropolis liegt, 180 m lang ist und einen Teil des römischen Tunnelsystems darstellte, zwar kein Adyton, dafür aber den von Norden postulierten Verbindungsgang besaß, während es jedoch unwahrscheinlich sein dürfte, daß gerade unter der Restauration des Augustus eine Militäranlage mit so einem heiligen Ort wie der Höhle der Sibylle verbunden wurde, und die Höhle auch nicht zu den antiken Beschreibungen81 paßt.82
Gemäß dem Bericht Vergils war der Apollontempel von Cumae mit figürlichem Schmuck versehen (6,14-33), was erst für den augusteischen Apollotempel auf dem Palatin in Rom überliefert ist, während es davor, besonders für das klassische Griechentum, keine sicheren Belege dafür gibt.83 Für die Verlegung des Apollontempels von Rom nach Cumae spricht auch, daß die Überreste auf der Akropolis nach Taylor nicht gerade auf immania templa hindeuten.84 Andererseits könnte es sich hierbei auch um einen Versuch handeln, durch die Verknüpfung mit Daedalus den Tempel unabhängig von der eigentlichen Gründung von Cumae als Kolonie in die Zeit vor dem troianischen Krieg zu datieren,85 so daß Vergil nur die Lokalität des Tempels übernommen haben könnte, ohne in seiner Beschreibung der Details auf einen real existierenden einzugehen, so daß die Anlagen und der Kult auch der Sibylle als Dienerin des Apollon als solches schon in die Zeit von Aeneas verlegt werden können.
Cumae selber war nämlich zu der für die Handlungen der Aeneis anzunehmenden Zeit noch nicht griechisch kolonisiert, sondern wurde als Kolonie erst zur Zeit der legendären Gründung Roms gegründet, während Vergil das Gebiet der Akropolis, obwohl er es sonst unbewohnt sein läßt, dennoch mit Tempel und Sibyllengrotte versieht.86 Ähnlich beschreibt Vergil auch im ersten Buch Karthago in den Formen einer römischen Kolonie, wobei er aber auch zur augusteischen Colonia Iulia Concordia Carthago von 29 v. Chr. in einigen Punkten im Widerspruch steht, so daß er eine typisierte Stadt entstehen läßt.87 Dementsprechend stellt McKay auch fest: „Past and Present are inextricably interwoven in Vergil’s epic. Although Aeneas’ adventures are part of a late Mycenaean context, eleven centuries past, there are Roman associations as well, allegorically or directly stated.“,88 wie auch schon Quintilian Vergil als einen amantissimus vetustatis betitelt hat,89 was auch durch die häufige Verwendung von Archaismen durch Vergil unterstrichen wird.90
So zählte Vergil beim kampanischen Anteil der Heeresschau in 7,723-743 auch schon längst verschollene Stämme auf, mit deren Namen nicht nur heute, sondern auch damals schon kaum jemand etwas anfangen konnte, um ein idealisiertes Bild einer wehrhaften Gegend mit funktionierenden landwirtschaftlichen und patriarchalischen Strukturen zu bieten.91 Daher erweckt er mit Ausnahme der Stadt Cales, die anscheinend am Ausgang der caudinischen Pässe eine beherrschende Lage innegehabt hatte, in den samnitischen Kriegen wiederholt von Bedeutung gewesen war und 334 als die erste Latinische Kolonie in Kampanien gegründet worden war,92 nicht den Eindruck einer in festen Städten wohnenden Bürgerschaft, sondern den einer ländlichen Völkerschaft. Dabei kehrte er den Prozeß des Überlebens von Stammesnamen in denen von Städten wieder auf Basis vorhandener Städte um, versah sie auch mit veralteter und schon damals kaum noch identifizierbarer Bewaffnung (Serv. Aen. 7,730),93 wie auch die Troer in der Holzbeschaffungsszene mit dem cuneus ein veraltetes Werkzeug benutzen,94 und verglich sie z.T., wie auch schon Thukydides altgriechische Sitten durch welche der zeitgenössischen Barbaren zu belegen versuchte, mit Barbarenvölkern, wie in 7,741 (Teutonico ritu soliti torquere cateias).95 Diese idealisierende Umformung entsprach auch der augusteischen Politik der Wiederbelebung der Landwirtschaft, um wieder die moralische Stabilität der republikanischen Zeit zu erreichen.96 Zudem besitzt Kampanien eine mineralienreiche vulkanische Erde, die die Feuchtigkeit sogar in der heißen Jahreszeit behält und so einen guten und ertragreichen Anbau ermöglicht.97 Vergils Italien ist aber auch zu einem großen Teil ein Land von „jungfräulichem“ Boden, auf dem keine Landwirtschaft betrieben wird, sondern auf dem sich noch ausgedehnte Wälder befinden (6,8.138.179.186.256),98 wie Vergil nach Palgrave überhaupt die wilde Natur liebt.99
Anmerkungen:
63 Stärk (1995), pp. 49-50; s.a. Klingner (1967), p. 481; s.a. Leach (1999), p. 115; Norden (1927), p. 187.
64 Rehm (1932), p. 70.
65 [Aristot.] mir. 102 (Ὅτι δ’ οὐδὲν διίπταται ὄρνεον αὐτήν, ψεῦδος· οἱ γὰρ παραγενόμενοι λέγουσι πλῆθός τι κύκνων ἐν αὐτῇ γίνεσθαι.) & Strab. 5,4,5 (pp. 244-245) & Antig. mir. 152; s.a. Stärk (1995), pp. 49-50; McKay (1970), pp. 212-213; Rehm (1932), pp. 77-78.
66 Austin (1977), p. 98; s.a. Hitchcock (1932/33), p. 514; Smiley (1948), p. 100.
67 Austin (1977), p. 109.
68 McKay (1970), p. 212; s.a. Klingner (1967), p. 480; Smiley (1948), p. 100; Taylor (1953), pp. 37-38.
69 Austin (1977), p. 99.
70 McKay (1970), p. 215; s.a. Schoder (1971/72), p. 107; Smiley (1948), p. 100.
71 McKay (1970), p. 213.
72 Stärk (1995), pp. 50-51; s.a. Reeker (1971), p. 68; Rehm (1932), pp. 75-78.
73 Reeker (1971), p. 69.
74 Apoll. Rhod. 4,597-600.
75 Rehm (1932), pp. 75-78 passim.
76 Schoder (1971/72), pp. 101-107 passim; s.a. Saunders (1930), pp. 27-28; Stärk (1995), pp. 51-52.
77 Schoder (1971/72), pp. 106-107; s.a. Clark (1977)b, p. 485 n. 11; s.a. Maiuri (1968), pp. 158-163 & 169-171; McKay (1970), pp. 208 & 215-216; Stärk (1995), pp. 51-52.
Hier stellt sich aber auch die Frage, ob nicht der Gang durch den Tunnel mit dem Gang durch den ersten Teil der Unterwelt an sich verglichen werden kann (s. in C) I.) Die Vereinbarkeit der Landschaftsbeschreibungen mit der real existierenden Landschaft Kampaniens c. n. 3). Zwar bringt ein Vergleich zwischen Tunnel und Unterweltseingang das Problem mit sich, daß man nach der Durchquerung des Tunnels sich wieder in der Oberwelt befindet. Dennoch eignen sich die Atmosphäre und der schwache Lichteinfall bis zu einem gewissen Grade als Sinnbild für einen Gang durch den ersten, dunklen Teil der Unterwelt, während nach längerem Aufenthalt im Tunnel das Wiedereintreten in das Tageslicht am Ende einem wie das Betreten des hell erleuchteten Elysium nach Passieren des Tartarus erscheinen muß. Interessanterweise wird der Rückweg des Aeneas in einem einzigen Vers vollendet (6,899: ille viam secat ad navis sociosque revisit), wie auch der Tunnel durch den Mons Grillus in Cumae, also in der Nähe des Landeplatzes, endet.
78 Strab. 5,4,5 (p. 245); s.a. Stärk (1995), p. 52; s.a. Maiuri (1968), pp. 164-165.
79 McKay (1970), pp. 205-207; s.a. Austin (1977), pp. 49-57; s.a. Clark (1977)b, pp. 487 & 491-492; della Corte (1972), pp. 106-107; Maiuri (1968), pp. 137-144; Schoder (1971/72), pp. 101-104; Smiley (1948), p. 100; Taylor (1953), pp. 39-40.
80 Austin (1977), p. 54; s.a. Clark (1977)b, p. 492; Maiuri (1968), p. 144; Schoder (1971/72), p. 102.
81 Iust. Mart. coh. 37,1 (PG 6, p. 308): Ἐθεασάμεθα δὲ ἐν τῇ πόλει γενόμενοι καί τινα τόπον, ἐν ᾧ βασιλικὴν μεγίστην ἐξ ἑνὸς ἐξεσμένην λίθου ἔγνωμεν, πρᾶγνα μέγιστον, καὶ παντὸς θαύματος ἄξιον· ἔνθα τοὺς χρησμοὺς αὐτὴν ἀπαγγέλλειν οἱ ὡς τὰ πάτρια παρειληφότης παρὰ τῶν ἑαυτῶν προγόνων ἔφασκον. Ἐν μέσῳ δὲ τῆς βασιλικῆς ἐπεδείκνυον ἡμῖν τρεῖς δεξαμενὰς ἐκ τοῦ αὐτοῦ ἐξεσμένας λίθου· ὧν πληρουμένων ὕδατος, λούεσθαι αὐτὴν ἔν αὐταῖς ἔλεγον, καὶ στολὴν ἀναλαμβάνουσαν, εἰς τὸν ἐνδότατον τῆς βασιλικῆς βαδίζει οἶκον ἐκ τοῦ αὐτοῦ ἐξεσμένον λίθου· καὶ ἐν μέσῳ τοῦ οἴκου καθεζομένην ἐπὶ ὑψηλοῦ βήματος καὶ θρόνου, οὕτω τοὺς χρησμοὺς ἐξαγορεύειν.
82 Clark (1977)b, p. 487; s.a. Leopold (1927), pp. 372-373; Maiuri (1968), pp. 147-155 passim.
83 Pöschl (1975), p. 123; s.a. Leach (1999), p. 116.
84 Taylor (1953), p. 39.
85 Parke (1988), p. 74. Allerdings kann zugleich hier eine Parallele zwischen dem Kulturbringer Daedalus, dessen mühselige Reise ebenfalls hier geendet haben soll, und Aeneas als dem Urvater der Römer gezogen werden, der „Kriegskunst und Heldentum“ nach Italien bringt (Neumeister (2005), pp. 158-160). Zugleich endet nach dieser Version hier für beide auch die Flucht vor ihrer bisherigen Vergangenheit, die beide große Opfer, nämlich Daedalus den Sohn und Aeneas den Vater, gekostet hatte. Schließlich dürfte das Labyrinth selber auch noch als Symbol für die bevorstehende Reise des Aeneas in die Unterwelt stehen, aus der man auch nur mit Mühe wieder herauskommt (Erdmann (1998), pp. 488-492).
86 Saunders (1930), pp. 28-29.
87 Reeker (1971), pp. 31-35.
88 McKay (1970), p. 46; s.a. Drew (1927), p. 4 & passim.
89 Quint. inst. 1,7,18; s.a. McKay (1970), p. 201.
90 Norden (1927), p. 368.
91 Stärk (1995), pp. 87-89; s.a. Fordyce (1977), p. 193; Rehm (1932), p. 70; Saunders (1930), p. 135; vgl. Moorton (1989), pp. 119-121 & 125.
92 McKay (1970), p. 236; s.a. Rehm (1932), pp. 32-33.
93 Stärk (1995), pp. 87-89; s.a. Fordyce (1977), p. 193.
94 Austin (1977), p. 95.
95 Rehm (1932), pp. 66-67; s.a. Saunders (1930), pp. 162-163 & 171.
96 McKay (1970), p. 29; s.a. Palgrave (1897), p. 48.
97 McKay (1970), p. 195.
98 Rehm (1932), p. 70; s.a. Austin (1977), p. 33.
99 Palgrave (1897), p. 47.