Mythisierung einer Kulturlandschaft
A) Formen der Landschaftsbeschreibung
I.) Formale Einteilung
Die kürzeste Form von Landschaftsbeschreibungen liefern Epitheta oder gleichwertige kurze Umschreibungen.1 Dabei werden die Wortgruppen gemäß dem poetischen Stil und zur Anpassung an die Metrik öfters gesperrt angeordnet. Sie besitzen v.a. bei Beschreibungen von allgemeinen landschaftlichen Elementen sehr oft einen pauschalen Informationsgehalt und keine weitere Aussagekraft für die Landschaft als solches. Trotzdem stellen sie aber auch keine unpassende Beschreibung dieser Landschaft dar (z.B. densa ferarum tecta [...] silvas (6,7-8),2 in [...] silvam, stabula alta ferarum (6,179); magnas obeuntia terras [...] maria (6,58-59); spumosa [...] unda (6,174); nox [...] atra (6,272); maria aspera (6,351); in nemus umbriferum (6,473)). Teils aus Gründen der Variation und zur Vermeidung von Homoioteleuta und teils aus metrischen Gründen werden die Epitheta zuweilen nicht auf das eigentlich beschriebene Wort, sondern in der Form der Enallage auf ein anderes Wort der gleichen Konstruktion bezogen (z.B. Euboicis Cumarum [...] oris (6,2) statt Euboicarum Cumarum oris).3 Auch wird die Wortfolge ab und zu so umgestellt, daß das Epitheton vorangeht und erst durch das nachfolgende zu Beschreibende aufgelöst wird (z.B. densa ferarum tecta [...] silvas (6,7-8)).4
Manche Epitheta erwähnen aber auch eine spezifische Eigenschaft der Landschaft bzw. identifizieren sie (z.B. antrum immane (6,11), praetentaque Syrtibus arva (6,60); in litore sicco (6,162); in antiquam silvam (6,179); silvam immensam (6,186); nemore in tanto (6,188); viridi [...] solo (6,192); loca nocte tacentia late (6,265); rauca fluenta (6,327); ventosa per aequora (6,335); per tacitum nemus (6,386); silva in magna (6,451); celso Nysae de vertice (6,805); Capitolia ad alta (6,836)). Dabei müssen sie wie im Falle der praetentaque Syrtibus arva (6,60), die als eine gefährliche Küste dargestellt werden sollen, zwecks der Schaffung einer bestimmten Stimmung nicht immer geographisch ganz korrekt sein.5
Die Epitheta wurden z.T. von Homer direkt übernommen, z.T. bei sprachlichen Schwierigkeiten in umschreibender Form umgesetzt, z.T. stellen sie aber auch eigene Schöpfungen Vergils dar, wobei er bei der Vergabe von Epitheta anscheinend prüfte, daß sie auch passend waren. Dabei liefern die umschreibenden Epitheta bzw. auch die Hinzufügung von Landschaften zu Städtenamen bzw. die Umschreibung einer Stadt durch ihre arva, campi oder rura eine plastischere Beschreibung als die aus einem Wort bestehenden.6 Diese Umschreibungen von geographischen Orten sind teilweise auch durch die Metrik bedingt, da einige geographische Bezeichnungen sich nicht für den Hexameter eignen.7
Etwas ausführlicher sind dagegen schon die Landschaftsbeschreibungen in der Form eines Nebensatzes, vorwiegend eines Relativsatzes, bzw. nebensatzähnlicher Konstruktionen wie Partizipialkonstruktionen bzw. von Ortadverbialen oder anderen Satzgliedern, die in die Handlung eingefügt sind (z.B. procul [...] antrum immane (6,10-11); tenebrosa palus Acheronte refuso (6,107); secreti celant calles et myrtea circum silva tegit (6,443-444); quae nunc has ire per umbras, per loca senta sita cogunt noctemque profundam (6,461-462); refugit in nemus umbriferum (6,473); ut tristis sine sole domos, loca turbida, adires? (6,534); camposque nitentis desuper ostendat; dehinc summa cacumina linquunt. (6,678); et tumulum capit, unde omnis longo ordine posset adversos legere et venientum discere vultus. (6,754-755); agens celso Nysae de vertice tigris. (6,805)).8
Die ausführlichsten Landschaftsbeschreibungen werden aber in der Form von Topothesien durchgeführt, die aus dem Handlungsablauf ekphrastisch herausgehoben worden sind, wobei der Begriff der Ekphrasis gemäß Krieger9 in seiner weiteren Bedeutung „als irgendein angestrebtes verbales Äquivalent eines beliebigen visuellen Bildes, innerhalb oder außerhalb der Kunst“ verstanden werden soll (z.B. die Höhle der Sibylle (6,42-44.81-82); der Hain der Juno (6,136-139.143-144.146-149); der Wald zur Holzbeschaffung (6,179-182); das Omen durch das Taubenpaar (6,190-193.199-209); die Öffnung des Dis (6,255-258); der Weg durch den Hades (6,270-272); die Ulme der trügerischen Träume (6,282-284); die Straße zum Acheron (6,295-297); das Gleichnis mit Herbstwäldern und Vogelschwärmen (6,309-312); die Weggabelung (6,540-543); die Feste des Tartarus (6,548-558); das Elysium mit dem Tal des Letheflusses (6,637-664.703-709)).
Landschaftliche Ekphraseis kann man meist schon an einer festen Eingangsformel wie Est locus o.ä. (z.B. Spelunca alta fuit... (6,237)) erkennen und sind selten ausdrücklich mit der Handlung verbunden wie in 6,179 (Itur in antiquam silvam...) und 6,637-638 (His demum exactis [...] | devenere locos laetos).10 Trotzdem wirken sie aufgrund ihres inneren Zusammenhangs im Ablauf der Handlung nicht unterbrechend,11 indem sie in den inneren Handlungsablauf integriert sind12 und zugleich einen Bezug auf vorausgehende bzw. nachfolgende Ereignisse herstellen. Dabei intensiviert die Landschaftsstimmung auch die Handlung.13 So liefert z.B. die Beschreibung der Höhle in 6,237-241 durch die Verbreitung einer unheimlichen Stimmung des Gebietes aufgrund der Vogellosigkeit (quam super haud ullae poterant impune volantes tendere iter pennis (6,239-240)), die zudem einen Hauch von Tod verspüren läßt, und durch die Dunkelheit der sie umgebenden Wälder ([sc. spelunca] tuta lacu nigro nemorumque tenebris (6,238)) und durch die Tiefe der Höhle (spelunca alta fuit (6,237)) einen Vorgeschmack auf die Unterwelt. Dementsprechend meint auch Palgrave:14 „Natural description [...], when brought in as background to the human figures, is treated with his usual art, but cannot be parted from his story.“ In diesem Sinne stehen Ekphraseis auch gern im Tempus der sie umgebenden Erzählung, um den Zustand im Augenblick der Handlung zu betonen,15 bzw. wohl auch, um zu betonen, daß eine Landschaft in ihrem Zustand zur Zeit der handelnden Heroen beschrieben werden soll, der heute so nicht mehr angetroffen werden kann. So wird z.B. die zur Zeit Vergils anscheinend noch existente Höhle an sich im Präsens dargestellt (6,42-44). Schließlich mußte Vergil überhaupt daran gelegen gewesen sein, auf minimalem Platz eine möglichst anschauliche Landschaftsbeschreibung anzubringen, da ein zu starkes und damit unterbrechendes Ausmalen von Landschaften im Epos „verpönt“ gewesen war.16 So ist diese Form der Topothesie bei Homer auch noch nicht so häufig und v.a. im hellenistischen Epos beliebt gewesen.17
Durch diese handlungsorientierte Funktion der Landschaft werden aber ab und zu Typisierungen der Landschaft unter Vernachlässigung der Realität notwendig.18 So eignen sich Ekphraseis – egal welcher Art – nicht immer dazu, den beschriebenen Gegenstand anhand ihrer Beschreibung „archäologisch“ zu rekonstruieren.19 Aber auch eine Ekphrasis, die aufgrund der in ihr enthaltenen Angaben rekonstruierbar ist, läßt in der Regel mehrere verschiedene „richtige“ Rekonstruktionen zu,20 indem sie ein „work to be completed“ darstellt.21 Dafür kann z.B. das in 1,483-484 in einem Gemälde vorkommende dreimalige Herumschleifen der Leiche Hektors um Troja herum (ter circum Iliacos raptaverat Hectora muros | exanimusque auro corpus vendebat Achilles) angeführt werden, das als solches nicht bildlich darstellbar ist,22 des weiteren aber auch das Elysium der Aeneis, das aufgrund der Beschreibungen nicht eindeutig rekonstruiert werden kann, indem sie verschiedene konkrete Landkarten zulassen würden.
Auch kann eine Ekphrasis als ein literarisches Objekt niemals genauso wie ein Bild oder eine Ansicht wahrgenommen werden, indem ein Bild z.B. zuerst einen Gesamteindruck vermittelt, während die Ekphrasis erst der Reihe nach durchgelesen werden muß, so daß dieses „auf einmal zugleich“ entfällt.23 Etwas Gesehenes läßt sich nicht in Form einer Aufzählung von Fakten zeigen, sondern es müssen auch die Beziehungen der Gegenstände zueinander und ihre Wirkung beschrieben werden.24 Eine Beschreibung muß Auswahlen treffen und sich auf das für sie Wichtige beschränken.25 Sie muß der Versuch bleiben, etwas Wahrgenommenes in der zeitlichen Reihenfolge der Wahrnehmung zu beschreiben. Außerdem kann Sprache als ein zeitliches Phänomen nur einen flüchtigen Eindruck des statischen Nichtflüchtigen liefern,26 hat aber im Gegensatz zum darstellenden Bild, wie schon angedeutet, den Vorteil, Bewegung zu verdeutlichen.27 Überhaupt stellt die Ekphrasis einen Übergang vom Räumlichen des Gesehenen zum Zeitlichen des Gesprochenen dar.28 Des weiteren existiert ein Widerspruch zwischen dem sinnlich wahrnehmbaren Gesehenen und dem in seiner Bedeutung nur geistig wahrnehmbaren Wort.29 Die Sprache besitzt allerdings auch „malerische“ Mittel, die diesen Kontrast relativieren.30 So wurde schon in der Antike die ἐναργεῖα als die Kraft des Textes, visuelle Bilder zu schaffen, herausgehoben.31 Zudem stellt der geschriebene Text wie das gemalte Bild nur eine Repräsentation des Wirklichen und damit ein Symbol dar.32 Schließlich ist eine Beschreibung zugleich auch immer ein constituens des Beschriebenen, in dem ein Weltverständnis mitausgedrückt wird.33
Trotz ihrer Integrierung in den Handlungsablauf stellen Ekphraseis aber auch in ihrem wörtlichen Sinne ein retardierendes Moment zur Verlangsamung des Handlungsflusses dar.34
Vergil baut bei seinen Landschaftsbeschreibungen wie z.B. bei der Beschreibung der libyschen Küste, bei der ausgehend von einer Bucht (1,159-169) allmählich eine Gesamtlandschaft gebildet wird, gern mittels verstreuter Aussagen stufenweise ein landschaftliches Gesamtbild auf. Details werden z.B. oft erst dann angeführt, wenn sie für die Handlung von Belang werden. Manchmal erfolgt dieser stufenweise Aufbau einer Landschaft durch eine Mischung der Mittel und Verteilung der beschreibenden Elemente innerhalb der Handlung wie z.B. bei der Höhle der Sibylle (s. in B) I.) Die Oberwelt).
Anmerkungen:
1 s.a. Friedländer (1912), p. 3.
2 Stellenverweise ohne Werksangabe beziehen sich allesamt auf Vergils Aeneis.
3 Austin (1977), p. 31; s.a. Norden (1927), pp. 112 & 406-407.
4 Austin (1977), p. 33.
5 Austin (1977), p. 62.
6 Rehm (1932), pp. 72-73.
7 s. Norden (1927), p. 141.
8 Friedländer (1912), pp. 3-5.
9 Krieger (1995), p. 43; s.a. Graf (1995), p. 144; Wagner (1996), p. 10.
10 Reeker (1971), pp. 75-76 c. n. 175; s.a. Rehm (1932), pp. 87-88.
11 Reeker (1971), p. 76.
12 Reeker (1971), pp. 29-30.
13 Reeker (1971), p. 74.
14 Palgrave (1897), p. 51.
15 Szantyr (1970), p. 29.
16 Rehm (1932), p. 72.
17 Rehm (1932), pp. 87-88.
18 Reeker (1971), p. 79.
19 Szantyr (1970), p. 28.
20 Hilmer (1995), p. 90; s.a. Leach (1988), pp. 12-14.
21 Wagner (1996), p. 38.
22 Szantyr (1970), p. 33.
23 Boehm (1995), p. 30; s.a. Krieger (1995), p. 43.
24 Boehm (1995), p. 30.
25 Angehrn (1995), p. 65.
26 Krieger (1995), pp. 43-44.
27 Krieger (1995), p. 49; s.a. Angehrn (1995), p. 60.
28 Hilmer (1995), p. 89; s.a. Leach (1988), p. 8.
29 Krieger (1995), p. 45.
30 Hilmer (1995), pp. 90-91.
31 Cic. Acad. pr. 17 & Quint. inst. 6,2,32 & Theon prog. 119,28; s.a. Graf (1995), pp. 145-146; Leach (1988), p. 7.
32 Wagner (1996), pp. 33-35.
33 Angehrn (1995), p. 73.
34 Edgecombe (1993), p. 103.