Das Aufeinandertreffen zweier Kulturen III
C) Die kulturelle Bedeutung von Museion und Bibliothek und ihr weiteres Schicksal
I.) Die Verbindung zum Herrscher und zur Außenwelt
Allerdings entwickelten sich nach allgemeiner Forschungsansicht die Mitglieder des Museion und die Hofintellektuellen, v.a. die Dichter wie Kallimachos, besonders seit der Zeit des Ptolemaios II. Philadelphos tendenziell zu einer immer elitäreren Gesellschaft, die sich nicht mehr an eine größere Allgemeinheit zu wenden,2 sondern sich selbst als Publikum zu genügen pflegte, wenn man vom König absieht, von dessen Gunst sie abhängig waren, weswegen sie ihn bisweilen in den höchsten Olymp lobten.3 So enthalten v.a. auf dichterischer Ebene viele Werke Anspielungen, die allein aufgrund anderer Werke des alexandrinischen Kreises verstanden werden können, bis hin zu wahren Feindschaften, die in den Gedichten ausgetragen werden, wobei allerdings dieses Moment aufgrund der überlieferten Materialbasis nicht zu stark überbewertet werden darf. In diesem Sinne muß immer noch die Möglichkeit in Erwägung gezogen werden, daß die Gedichte, die in ihrem vollen Gehalt von Andeutungen wirklich nur von anderen Mitgliedern des Museion und der Gelehrtenwelt verstanden werden konnten, auch außerhalb dieser Kreise von ihrem allgemeinen Sinn her begriffen werden konnten. Dabei bieten dann die Dichtungen verschiedene Verständnisebenen an, indem z.B. ein panegyrisches Werk zwischen den Zeilen auch Kritik enthalten kann, die vom Hörer bzw. Leser jedoch zuerst entziffert werden muß. Denn viele Gedichte, die im Sinne einer Propaganda zugunsten des Hauses der Ptolemaier und seiner Herrschaft gedeutet werden können, müssen ihren hauptsächlichen Sinn gerade darin gefunden haben, daß sie auch außerhalb des eigentlichen Kreises der Gelehrten ihre Wirkung zeigten.4 Auch beschäftigten sich viele Gedichte mit aktuellen Geschehnissen und Begebenheiten sowohl am Hofe als auch außerhalb des Hofes und arbeiteten somit auch außerhalb des sonst v.a. beliebten antiquarischen Bereiches. So wird bei Theokrit auch das Leben von Mitgliedern zwar nicht der einfachen, sondern der etwas gehobeneren Bevölkerung beschrieben, die jedoch nicht zur Umgebung des Königs, also zum „Hof“, zählte, und auf ihre Sicht eingegangen (Theokr. 15).5
Was den Bereich des Herrscherlobes anbetrifft, so mag z.B. Poseidippos ein starkes Gewicht auf die Preisung des Ptolemaierhauses und seiner einzelnen Mitglieder gelegt haben.6 Jedoch fällt zugleich auf, daß die höfische Dichtung bezüglich der direkten Herrscherpropaganda bzw. ausdrücklichen Herrscherlegitimierungen keine besondere Systematik aufweist. So erfährt z.B. die Sieghaftigkeit des Herrschers nur eine recht geringe Reflexion (Theokr. 17,86-94 & Kallim. hymn. 4,185-190), wie auch andere bedeutsame Bereiche des Herrscherbildes wie z.B. die königliche Selbstrepräsentation in vollem Reichtum und Prunk u.a. in Form der luxuriösen Hofhaltung und von Festen oder auch der von Ptolemaios I. eingeführte und von seinen direkten Nachfolgern unterstützte Sarapis-Kult kaum erwähnt werden. Zugleich befaßt sich auch ein großer Teil der Dichtung mit Themen, die mit dem Herrscher bzw. seiner Verherrlichung in keinem besonderen Zusammenhang stehen, so daß von einer systematisch angelegten Propaganda nicht gesprochen werden kann. Der Propagandacharakter muß wohl vielmehr darin gesucht werden, daß sich der König durch die Unterstützung der Dichter als Förderer der griechischen Kultur darstellen und zugleich auch seinen Reichtum demonstrieren konnte, indem er genügend überschüssige Ressourcen zum Unterhalt seiner Dichter besaß. Bei den direkten Referenzen auf den Herrscher bzw. das Herrscherhaus und seine Taten handelt es sich dann wohl vielmehr um eine Reflexion der neuen Realität der einzelnen Dichter als Teil einer „Patronatsstruktur“.7
Zumindest auf den ersten Blick legten die Vertreter der schönen Künste noch auf eine andere Weise ein elitäres Denken an den Tag, indem die in ihnen beschriebenen und dargestellten einfachen Leute und Landschaften der ländlichen Idylle in einer überwältigenden Mehrheit nicht in Ägypten, sondern in der traditionellen griechischen Welt gesucht werden müssen.8 Auch sonst interessierten sich die Autoren selten für andere Kulturen, indem z.B. selbst die „vor der Haustüre“ liegende ägyptische Kultur und Geschichte kaum beachtet werden und außerhalb der griechischen Welt v.a. die Stämme, die in den homerischen Epen erwähnt werden, auf Interesse stoßen.9 So hebt z.B. Poseidippos von Pella in seinen Epigrammen immer die makedonischen bzw. auch thrakischen Elemente hervor (Poseidippos 21AB & 36AB & 44AB) und betont die makedonische Abstammung der Ptolemaier (Poseidippos 78AB & 82AB & 87AB & 88AB).10 Lediglich unter Ptolemaios I. können v.a. in der Person Manethons Ansätze zu einem Interesse an Ägypten mitsamt Geschichte, Bevölkerung, Vorstellungen, Sitten und Bräuchen entdeckt werden, das als das an einem frisch eroberten Land erklärt werden kann, das aber recht bald nachließ.11 Schließlich können, abgesehen von einigen potentiellen hellenisierten Ägyptern, die daher in dieser Hinsicht nicht mehr besonders ins Gewicht fallen, v.a. aber auch erst in späterer Zeit zahlreicher sind, praktisch keine ägyptischen Kulturschaffenden in Alexandreia belegt werden, insbesondere keine, die mit denen griechischer Kultur nachweislich größeren Kontakt hatten.12
Allerdings besteht durchaus die Möglichkeit, daß die griechischen Dichter in Alexandreia auch ägyptische Motive anwandten, nur diese griechisch interpretierten, während der heutige wissenschaftliche Rezipient die Literatur in der Regel aus der rein griechischen Perspektive betrachtet und alles durch griechische Muster zu deuten versucht, ohne dabei auch die Möglichkeit bewußter ägyptischer Inspiration der Themen und Motive ausreichend in Betracht zu ziehen. So beweist gerade der griechische Schriftsteller Herodot, daß die ägyptische Gedankenwelt den Griechen sogar schon in vorhellenistischer Zeit nicht absolut unbekannt war.13 In diesem Sinne kann außerhalb des literarischen Bereiches noch hervorgehoben werden, daß z.B. die bei Kallixeinos beschriebene Pompe (Festzug)14 viele Motive enthielt, die auf ägyptische Weise interpretiert werden konnten bzw. u.U. gar erst durch eine ägyptische Konnotation ihren vollen Sinn erhielten, sich aber äußerlich grundsätzlich in griechischen Formen hielten.15 Auch näherten sich z.B. die Darstellungen des Königtums bei den griechischen Dichtern immer mehr den ägyptischen an.16 Dies bedeutet jedoch zunächst einmal nur, daß sich die Vertreter des griechischen Ägypten einheimischer Elemente bedienten, was wiederum nur ein Ergebnis der lokalen Nähe zur ägyptischen Kultur darstellen könnte und im stärksten Fall wohl darauf fußen dürfte, daß manche Elemente der ägyptischen Symbolik bzw. manche Konstrukte in der ägyptischen Götterwelt eine gewisse Attraktivität ausübten und deshalb von der in Ägypten ansässigen griechischen Kultur in das eigene System integriert wurden, ohne daß man sich deswegen der einheimischen Kultur grundsätzlich öffnete.17 Zugleich besteht aber auch das Problem der Beweisbarkeit, insoweit nicht nachgewiesen werden kann, daß ein gewisses Motiv nicht aus den in der griechischen Literatur vorhandenen Motiven herstammen kann und unbedingt aus dem außergriechischen Bereich, besonders aus dem ägyptischen Bereich, entnommen sein muß, und insoweit die Annahme der ägyptischen Entlehnung die des Komplexeren und aus heutiger Sicht Unwahrscheinlicheren darstellt.18 Da sich die in Alexandreia geschaffenen Werke ferner auch bei Referenzen innerhalb der griechischen Kulturwelt durch deren Dunkelheit auszeichnen, kann aufgrund der nur fragmentarischen Überlieferungslage der griechischen Literatur niemals mit annähernder Sicherheit geschlossen werden, daß an einer bestimmten Stelle ein Verweis auf ein außergriechisches Motiv vorliegen muß. Schließlich müssen hierbei auch notwendigerweise interpretationes Graecae vorausgesetzt werden, indem Ägypten und Elemente ägyptischer Kultur und Tradition kaum explizit erwähnt werden, sondern ägyptische Gottheiten z.B. durchweg durch griechische substituiert werden, wie es schon bei Herodot der Fall war.19 Aufgrund dieses griechischen a priori der eigentlichen Identität der Götterwelten dürfte der mutmaßliche Zweck wohl kaum darin bestanden haben, die ägyptische Kultur den Griechen unbewußt näher zu bringen.20 So blieb immer noch das Phänomen als solches bestehen, daß sich die Dichter immer noch prima facie in einer griechischen Welt bewegten, in der das Ägyptische nur eine nebensächliche bzw. additive Rolle spielt, während es selten offen zutage tritt. Eine eigene Gruppe bestand jedoch auch in den Anspielungen auf ägyptische Gottheiten und Kulte, die innerhalb der griechischen Welt schon eine eigene Rolle einnahmen, wie z.B. die Erwähnung und Einbindung des Apis bei Kallimachos (Kallim. frg. 383Pf.,14-16).21 Auch setzten sich die Dichter und Gelehrten des öfteren mit ihrer neuen Heimat und dabei v.a. mit dem Nil als der wichtigsten Konstituente dieser auseinander. Denn gerade dieser konnte durch seine fruchtbaren Fluten Leben und Reichtum, aber auch durch zu schwache oder zu starke Fluten Hungersnot und Mangel oder Zerstörung und Verderben bringen, so daß einerseits die Darstellung von persönlichen Katastrophen, andererseits aber auch die philosophische Untersuchung des Flusses eine gewisse Rolle spielten (Kallim. hymn. 3,170-171 & 4,205-208 & frg. 384,27-32Pf.).22
Anmerkungen:
2 s. Kallim. epigr. 28Pf.,1-4: Ἐξθαίρω τὸ ποίημα τὸ κυκλικόν, οὐδὲ κελεύθῳ | χαίρῳ, τίς πολλοὺς ὧδε καὶ ὧδε φέρει· | μισέω καὶ περίφοιτον ἐρώμενον, οὐδ’ ἀπὸ κρήνης | πίνω· σικχαίνω πάντα τὰ δημόσια.
3 Green (1990), pp. 171-172; s.a. Mahaffy (1887), p. 250; Barber (1928), p. 267; Badian (1964), p. 182.
4 Weber (1993), pp. 126-129 & 208.
5 Weber (1993), pp. 126 & 360-361.
6 Poseidippos 20AB & 31AB & 36AB & 76AB & 78AB & 82AB & 87AB & 88AB; s.a. Stephens (2004), pp. 71 & 81-85.
7 Weber (1993), pp. 303-319 passim & 400-406 & 409-410 & 415.
8 Turner (1984), p. 172; s.a. Weber (1993), p. 398.
9 Fraser (1972), Bd. I, p. 496; s.a. Mahaffy (1887), pp. 260 & 285-287; Samuel (1983), p. 70.
10 Stephens (2004), pp. 65-66.
11 Fraser (1972), Bd. I, pp. 520-521; s.a. Bowman (1986), p. 227.
12 s. Peremans (1976), pp. 173-175.
13 Stephens (2003), pp. 5-7; s.a. Koenen (1993), pp. 81-113 passim; Weber (1993), pp. 377-381 & 393.
14 Athen. 5,196a-203b = FGrH 627 (Kallixeinos von Rhodos) F2.
15 Pfrommer (1999), pp. 62-68.
16 Merkelbach (1981), p. 27.
17 vgl. z.B. den Sarapis-Kult (s. Caroli (2007), pp. 339-363 passim).
18 s.a. Weber (1993), p. 381.
19 s. Stephens (2003), pp. 7-8; s.a. Weber (1993), p. 371. Stephens (2003), p. 8 geht allerdings von der problematischen Annahme aus, daß die Gelehrten in Alexandreia eine bewußte Hellenisierungspolitik betrieben hätten, weswegen sie versucht hätten, die ägyptische Mythologie in die traditionelle griechische einzupassen. Dies hätte jedoch das Staatssystem erheblich geschädigt (s. in E) II.) Der Ἑλληνισμός als Bedürfnis der tragenden Schichten des Reiches).
20 s. Stephens (2003), p. 8.
21 Stephens (2003), pp. 8-9.
22 Weber (1993), pp. 395-396.